Der Novembermörder
Molinsgatan als auch in der Berzeliigatan. Selbst die Tür zum Müllraum und die Türen zum Hof waren in beiden Häusern verschlossen. Trotzdem hatte der Mörder sich ungehindert durch Türen und Treppenhäuser bewegen können. Demzufolge musste es noch weitere Schlüssel geben. Zum Abschluss sagte Irene: »Und Sie haben mir doch gesagt, dass an Ihrem eigenen und an Richards Schlüsselbund auch die Schlüssel für Ihr Haus in Marstrand sind. Stimmt das?«
Jetzt klang die Stimme dünn und ängstlich. Sie hatte begriffen, worauf Irene hinaus wollte. Mit zitternder Stimme sagte Sylvia: »Sie glauben also, der Mörder könnte hierher kommen? Und ins Haus eindringen, da er ja die Schlüssel hat?«
Jetzt war die Panik in ihrer Stimme deutlich herauszuhören. Irene ging zu einem beruhigenden Tonfall über, als sie antwortete: »Soweit wir es beurteilen können, gibt es ein gewisses Risiko. Das ist nicht auszuschließen. Sind Sie allein in dem großen Haus?«
»Ja. Henrik ist unten in seinem Haus.«
»Könnten Sie ihn bitten, heute Nacht bei Ihnen zu schlafen? Oder dass Sie bei ihm im Haus schlafen?«
Eine ganze Weile war nichts zu hören. Dann erklang Sylvias Stimme mit größerer Kraft und Sicherheit: »Ich werde mich noch um die Pferde kümmern. Dann fahre ich zu einem Freund. Henrik kann zu sich fahren, denn von dem Haus hat der Mörder ja wohl keine Schlüssel, oder?«
»Höchstwahrscheinlich nicht. Darf ich wissen, wohin Sie fahren?«
»Ich kann keinen Grund sehen, warum Sie das wissen müssten!«
Irene kannte inzwischen das nur zu vertraute Gefühl, das sich früher oder später bei jedem ihrer Gespräch mit Sylvia einstellte. Die Geduld war aufgebraucht und der Adrenalinspiegel stieg. Langsam und pädagogisch, als hätte sie es mit einem widerspenstigen Kind zu tun, sagte sie: »Sylvia, wir nehmen an, dass hinter den Ereignissen der letzten Tage ein gefährlicher Mörder steckt. Begreifen Sie doch bitte, dass wir nicht in Ihrem Privatleben herumschnüffeln wollen. Wir versuchen nur Sie zu schützen.«
»Dann nehmt den Mörder fest!«
Klick!
Die Überraschung schlug schnell in Wut um, während sie dumm auf den Hörer guckte. Verdammte Schnepfe, kapierte sie denn nicht …! Irene unterbrach sich selbst. Eine Idee nahm Gestalt an. Sie zog sie hervor, betrachtete sie und beschloss, sie als gut zu klassifizieren. Entschlossen stand sie auf und ging zum Kommissar.
»Das ist eigentlich gar keine dumme Idee. Tu das. Wenn es was bringt, ruf mich an. Ich bleibe bis sechs hier. Danach bin ich den ganzen Abend zu Hause. Morgen will ich versuchen, mal früher nach Hause zu kommen. Ich bin bei meiner Nichte zum Essen eingeladen, bei Marianne, weißt du.«
Irene nickte. Sie kannte Marianne und ihre beiden kleinen Jungs, auch wenn sie sie noch nie getroffen hatte.
»Haben sie inzwischen Torsson erwischt?«
»Nein. Er muss untergetaucht sein, er hat wohl gemerkt, dass er nicht so einfach davonkommen wird. Man beißt eine Polizistin nicht ungestraft in ihre Tit … in die Brust!«
Irene gelang es gerade noch, ihr Grinsen in einen leichten Husten übergehen zu lassen. Es war aber auch zu witzig, wie der Kommissar plötzlich von der Eingebung überfallen worden war, vielleicht doch Rücksicht auf das schöne Geschlecht nehmen zu müssen.
Es war bereits kurz vor zwölf, also war keine Zeit zu verlieren. Das Mittagessen schrumpfte zu einer Wurst unterwegs zusammen.
Die E6 ist fast zehn Kilometer länger, aber auf ihr geht es schneller als auf den kleinen Schleichwegen. Es war windig und graue Wolken zogen ihre feuchten Rocksäume tief über Hissingen hinweg. Der Verkehr war dicht. Wahrscheinlich wollten die Bewohner der Randgemeinden in geordneten Marschreihen Göteborg erobern, um dort einzukaufen, sich die Schaufenster anzusehen und mit den Kindern Hamburger bei McDonald’s zu essen. Plötzlich merkte Irene Huss, wie hungrig sie war. Bei der erstbesten Tankstelle mit Imbiss trat sie auf die Bremse. Es war nicht so einfach beim Autofahren eine Wurst zu essen. Der letzte Wurstzipfel rutschte aus dem Brot und landete auf ihrem Schoß. Der Senf war auf den schwarzen Jeans gut zu sehen. Sie lieh sich einige gewichtige Worte aus dem Wortschatz ihres Chefs. Fast hätte sie auch noch die Abfahrt nördlich von Kungälv verpasst, aber im letzten Moment schaffte sie es gerade noch abzubiegen.
Der Weg hinaus nach Marstrand ist wunderschön, und eigentlich genoss sie ihn jedes Mal. Aber an diesem grauen Novembertag war sie
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