Der Novembermörder
in der Woche ein Dessert.«
»Was denn?«
»Apfelkuchen mit Vanilleeis.«
Ohne größere Begeisterung zuckte Jenny nur leicht die Schultern. »In Ordnung.«
Noch vor einem Jahr wäre sie die Erste auf der Treppe nach unten gewesen und hätte schon am Tisch gesessen, bevor die anderen überhaupt im Raum gewesen wären. Jetzt schlurfte sie hinter Irene und Katarina her und nahm als Letzte Platz. Tommy begrüßte beide fröhlich und ließ dabei seinen Blick so lange auf Jennys Glatze ruhen, bis es ihr unangenehm wurde. Aber er kommentierte ihren plötzlichen Haarverlust nicht.
Das Essen fand bei fröhlicher, harmonischer Unterhaltung statt. Kein Wort über Mord, Bomben, MC-Banden, Drogen oder unergiebige Verhöre von Profigaunern. Irene fühlte sich sicher und entspannt im Kreis ihrer Familie und ihres besten Freundes. Als es Zeit für den Kaffee wurde, schlug Tommy vor, sie sollten sich doch ins Wohnzimmer setzen. Er lächelte die Zwillinge an: »Ich möchte euch nämlich eine wahre Geschichte aus dem Leben erzählen.«
Sie setzten sich aufs Sofa und auf die Sessel um den Couchtisch. Durch die Glasscheibe konnten sie den Gabbehteppich mit seinen warmen Farbtönen sehen und Irene fand wieder einmal, dass er ausgezeichnet zu dem gerahmten Miródruck an der Wand passte. Auf Tommys Vorschlag hin schalteten sie alle Lampen aus und zündeten ganz viele Kerzen an.
Die Stimmung war gemütlich und erwartungsvoll, als Tommy mit seiner Erzählung begann: »Was ich zu erzählen habe, ist eine spannende und sehr traurige Geschichte. Sie beginnt 1932 in Berlin. Die Nationalsozialisten sind gerade dabei, unter Führung des großen Agitators Adolf Hitler, ganz Deutschland zu erobern. Das Volk ist begeistert und sieht in Hitler den großen Befreier aus Arbeitslosigkeit, Armut und sozialer Ungerechtigkeit. Ganz zu schweigen von seinem Geschick, mit den Gefühlen der Menschen angesichts eines ungerechten Friedensvertrags nach dem Ersten Weltkrieg zu spielen. Die nationalsozialistischen Ideen fielen im Deutschland der Dreißiger auf fruchtbaren Boden. Nach 1933 waren die Nationalsozialisten die einzige zugelassene Partei. Und wer ruft denn nach Demokratie, wenn sich ein ganzes Volk erhebt und im Gleichschritt marschiert! Bücher, die als schädlich für den Nationalstaat angesehen wurden, verbrannte man, und ihre Autoren wurden verbannt. Nur noch die vom Staat gutgeheißene Musik durfte gespielt werden. Filme und Radiosendungen wurden zensiert, bevor sie veröffentlicht werden durften. Die Schulen nahmen die faschistische Ideologie in ihre Lehrpläne mit auf, und Lehrer, die sich dem nicht fügten, wurden entfernt. Auch die Juden wurden entfernt. Sie seien Teil einer weltweiten Verschwörung, die die ganze Welt bedrohte, so lautete die Erklärung. Alle Juden mussten einen Stern auf ihrer Kleidung tragen. Und zum Schluss wurde gewissenhaft dafür gesorgt, dass sie in große Vernichtungslager gebracht wurden, zusammen mit Zigeunern, Homosexuellen, Kommunisten, Dänen, Norwegern, Russen, Polen, Engländern …«
»Es hat nie Konzentrationslager gegeben. Das ist alles reine Propaganda!«
Jenny war knallrot vor Wut, das war sogar in dem schwachen Licht der Kerzen zu sehen.
»Ach, ja? Und wer verbreitet dann bitte schön diese Propaganda?«
»Das machen die … die Kommunisten!«
»Wo sitzen denn heute diese Kommunisten, die so eigensinnig an diesen Lügen festhalten?«
»Die sind in … in der Sowjetunion!«
»Es gibt keinen Staat mehr, der Sowjetunion heißt. Nein, weißt du, es sind die Leute, die in diesen Lagern saßen, die davon berichten können. Heute sind nicht mehr viele von ihnen am Leben, aber es gibt sie, und sie können bezeugen, dass es keine Lüge ist. Sie sprechen für Millionen von Menschen, die niemals lebend aus den Konzentrationslagern herausgekommen sind. Aber leider gibt es in allen Ländern heute Gruppen, die nicht wahrhaben wollen, was damals passiert ist. Es muss bitter für die norwegischen und dänischen Widerstandskämpfer sein, die heute über siebzig Jahre alt sind, wenn sie hören müssen, wie junge Neonazis ihre schrecklichen Erlebnisse und den Tod ihrer Kameraden als Lüge bezeichnen.«
Tommy trank einen Schluck Kaffee, bevor er weitersprach: »Aber das alles erblühte erst in einem späteren Stadium der Entwicklung von Nazideutschland. Zurück nach Berlin 1932. Die Nationalsozialisten wurden schnell mächtig. Die Hitlerjugend wurde bereits Ende der Zwanziger gegründet, in ihr sollten Kinder und
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