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Der Novembermörder

Der Novembermörder

Titel: Der Novembermörder Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Helene Tursten
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Jugendliche ab zehn Jahren zu zuverlässigen Kämpfern für das Reich und die Partei herangezogen werden. An einem dunklen Januarabend war eine Bande von fünf älteren Hitlerjungen auf dem Weg zu einer Zusammenkunft. Sie kamen an einer Schule vorbei und gerade in dem Moment trat ein Mädchen durch das Schultor auf die Straße. Sie war dreizehn Jahre alt und hieß Rachel. Die Jungs wussten, dass sie Jüdin war und ihr Vater Buchhändler. Sie drängten sie wieder zurück auf den Schulhof. Dort vergewaltigten die Jungs sie einer nach dem anderen. Vier hielten sie fest, der Fünfte verging sich an ihr. Damit machten sie so lange weiter, bis sie stark zu bluten anfing. Da bekamen sie Angst und ließen von ihr ab. Ihr Vater fand sie ein paar Stunden später. Sie lag immer noch so da, wie die Jungs sie zurückgelassen hatten. Ihre Augen starrten hinauf zu dem schwarzen Nachthimmel, und sie reagierte nicht auf Ansprache. Rachel würde nie wieder auf Ansprache reagieren.«
    Tommy verstummte und schaute seine Zuhörer an. Irene wusste, was seine Absicht war, und unterdrückte den Impuls, ihn zu bitten, mit der Schilderung aufzuhören. Katarina sah aus, als müsste sie sich gleich übergeben. Jenny hatte einen harten Gesichtsausdruck aufgesetzt, aber Irene kannte ihre Tochter und konnte an den nervös herumzupfenden Fingern sehen, dass sie äußerst aufgewühlt war. Tommy holte tief Luft und fuhr fort: »Man könnte denken, weil Rachel so stark geblutet hat, konnte sie nicht schwanger werden. Aber sie wurde es. Ihr Vater war verzweifelt. Er hieß Jacob Uhr. Er war schon früh Witwer geworden und aus Polen nach Berlin gezogen, als Rachel noch klein war, um sich und seiner Tochter eine Zukunft aufbauen zu können. Er arbeitete für seinen unverheirateten Bruder in dessen Buchhandlung. Als dieser nach ein paar Jahren starb, hatte er das Geschäft testamentarisch Jacob vermacht. Die Geschäfte gingen nicht strahlend, aber Jacob und seine Tochter kamen zurecht. Bis das mit der Vergewaltigung passierte. Ärzte kamen und gingen. Rachel lag im Koma, eine Folge des Schocks, und musste wie ein Kleinkind versorgt werden. Zum Schluss hatte Jacob nicht mehr die Mittel, die Rechnungen der Ärzte zu bezahlen, er musste Rachel so gut es ging selbst versorgen. Da wusste er bereits, dass sie schwanger war. Eine jüdische Nachbarin versprach ihm, bei der Geburt zu helfen.«
    Katarina war so erschüttert, dass ihre Stimme umkippte, als sie fragte: »Aber warum hat der Vater denn die Täter nicht angezeigt?«
    Tommy erklärte ihr im gleichen ruhigen Tonfall wie vorher: »Das hat er gemacht, gleich nach der Vergewaltigung. Aber die Polizisten grinsten nur und zwinkerten sich verschwörerisch zu. Und danach ist nichts mehr passiert. Niemand hatte ein Interesse daran, nach fünf reinrassigen arischen Jungen zu suchen, die ein unter ihnen stehendes jüdisches Mädchen vergewaltigt hatten. Ja, Jacob Uhr konnte fast dankbar sein, dass seiner minderwertigen Rasse ein wenig edles arisches Blut zugeführt worden war.«
    Jetzt war Jenny leichenblass und ihre Augen in dem haarlosen Kopf sahen unnatürlich groß aus. Sie wandte ihren Blick nicht von Tommy.
    »Rachel wurde vierzehn Jahre alt. Zwei Wochen später setzten die Wehen ein. Fast drei Tage lang lag das kleine, magere Mädchen in den Wehen und versuchte das Kind aus sich herauszuquetschen. Jacob stand nur die Nachbarin zur Seite, die Erfahrung mit Geburtshilfe hatte. Sie war es auch, die merkte, dass Rachel im Sterben lag. Jacob weigerte sich zunächst, das wahrzuhaben, aber sie schrie: ›Jetzt geht es um Sekunden!‹ Sie griff mit ihrem Arm in Rachels Unterleib und mit dem Blutschwall, der herausströmte, zog sie das kleine Kind mit heraus. Jacob wollte zunächst nicht das Wunder sehen, das ihn das Leben seiner einzigen Tochter gekostet hatte. Aber die Hebamme war eine resolute Frau. Sie badete das schreiende kleine Wesen, wickelte es und legte es Jacob auf den Schoß. Dann sage sie: ›Jacob Uhr. Dieses kleine Kind ist ohne jede Schuld. Deine Tochter starb an dem Abend auf dem Schulhof, sie ist nie wieder zu uns zurückgekommen. Aber das Kind lebt und ist gesund. Das hast du als eine Gabe Gottes bekommen, für Rachel, die er von uns genommen hat. Und dieses kleine Mädchen soll Sonya heißen, nach mir!‹ Da schaute Jacob in die dunklen, saphirblauen Augen des Kindes. Das Kleine war still geworden und schien seinen Großvater direkt anzusehen. Und in seinem Herzen wurde ein Licht für das kleine

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