Der Novembermörder
meistens zu Hause. Ich bin Fotomodell.«
Von Henrik war ein leises Schnauben zu hören. Sie tat so, als hörte sie es gar nicht, sondern fuhr einfach fort: »Die Modellbranche ist hart. Als ich Henrik kennen lernte, ging ich auf eine Schauspielschule.«
»Haben Sie Kinder?«
Charlotte holte tief Luft.
»Ich habe Freitag erfahren, dass ich schwanger bin«, sagte sie nach einem gewissen Zögern.
»Oh, herzlichen Glückwunsch!«
Irene schaute lächelnd von Charlotte zu Henrik, musste aber feststellen, dass sie sich ihre Glückwünsche hätte sparen können. Beide saßen kerzengerade und steif da, keiner sah den anderen an. Vielleicht waren es einfach zwei zu starke Gefühlseindrücke zu dicht aufeinander? Zuerst der Bescheid über die Schwangerschaft und dann nur ein paar Tage später der Mord. Als könnte sie Gedanken lesen, sprang Charlotte von ihrem Stuhl auf und fragte mit gedrückter Stimme: »Entschuldigung, wo ist das WC? Mir geht es nicht so gut!«
Nachdem sie Charlotte schnell zur nächstgelegenen Toilette gebracht hatte, kehrte Irene nachdenklich in ihr Zimmer zurück. Da war etwas in der gespannten Atmosphäre zwischen den beiden Eheleuten, das nicht stimmte. Deshalb war sie nicht sehr verwundert, als sie Henrik tief in sich zusammengesunken auf dem Stuhl vorfand, die Hände vor das Gesicht geschlagen. Ohne ein Wort setzte sie sich auf ihren Platz und wartete ab. Nach einigen Minuten nahm er die Hände herunter und richtete seine Lehmaugen auf sie. Sie waren vollkommen trocken und tot, ohne das geringste Anzeichen von Feuchtigkeit. Tonlos sagte er: »Wahrscheinlich führen wir uns ziemlich merkwürdig auf, aber wir stehen unter einem unglaublichen Druck. Die letzten Tage waren die Hölle!«
Er holte tief Atem und fuhr fort: »Charlotte und ich haben einige Probleme gehabt. Sie fühlte sich ziemlich einsam, weil ich viel gereist bin. Das war ein anstrengender Herbst mit vielen Diskussionen und Streit. Am Donnerstag haben wir beschlossen, uns für eine Weile zu trennen, aber wir wollten auf dem Fest meiner Eltern am Samstag noch den Schein wahren. Und am Freitagabend, als ich nach Hause kam, hat Charlotte mir mitgeteilt, dass sie bei ihrem Gynäkologen war und dass sie in der zwölften Woche schwanger ist! Wir haben das ganze Wochenende hin und her diskutiert. Am Samstagabend haben wir den dreißigsten Hochzeitstag meiner Eltern gefeiert, und am Sonntag ging mein Flugzeug nach London, um fünfzehn Uhr. Und als ich am Dienstagabend zurückgekommen bin, da ist das mit Papa passiert! Ich bin vollkommen erledigt!«
Irene empfand Mitleid mit der schmächtigen Person auf der anderen Seite ihres Schreibtischs. Aber gleichzeitig war es wichtig, so viele Informationen wie möglich zu bekommen. Henrik schien das Bedürfnis zu haben zu reden, und offensichtlich vertraute er ihr. Jeder tüchtige Vernehmungsführer nutzt so etwas aus. Vorsichtig fragte sie leise: »Sind Sie und Charlotte zu einem Beschluss gekommen?«
Er nickte.
»Ja, wir werden versuchen weiterzukämpfen. Dem Kind und der Familie zuliebe. Und Charlotte wird mit einem Kind ausgefüllt sein und muss sich dann nicht mehr so überflüssig zu Hause fühlen.«
Irene konnte sich noch gut daran erinnern, dass sie fast auf den Knien gelegen und den Boden im Umkleideraum geküsst hatte, als sie wieder anfangen konnte zu arbeiten, nachdem sie neun Monate mit den Zwillingen zu Hause gewesen war. Krister war die folgenden vier Monate daheim geblieben, und anschließend besuchten die Mädchen eine Krippe.
Aus dem Augenwinkel konnte sie sehen, dass Charlotte wieder hereinkam, und beschloss deshalb, das Thema zu wechseln.
»Wer wohnt außer Ihren Eltern in dem Haus in der Molinsgatan?«, fragte sie.
»Im Erdgeschoss wohnt der Börsenmakler Valle Reuter. Er heißt Waldemar, wird Valle genannt. Im ersten Stock wohnen Papas alter Klassenkamerad Peder Wahl und seine Frau Ulla. Sie haben ein Haus in der Provence, da halten sie sich die meiste Zeit auf und genießen ihr Pensionistendasein.«
»Aber er kann doch nicht älter als sechzig sein, wenn er mit Ihrem Vater in eine Klasse gegangen ist?«
Zum ersten Mal während des gesamten Gesprächs umspielte so etwas wie ein Lächeln Henriks Mund.
»Peder und Papa haben eins der größten Immobilienimperien Schwedens verkauft, als es auf dem Markt am turbulentesten zuging. Mit mehr als einhundert Millionen auf der Hand beschloss er, dass es an der Zeit war, es etwas ruhiger im Leben angehen zu lassen. Er hat
Weitere Kostenlose Bücher