Der Novize des Assassinen: Roman (German Edition)
schätzte er. Binnen eines halben Räucherstäbchens saßen Tarō und Yukiko auf der Mauerkrone und blickten in den Hof hinab. Tarō konnte Pferde riechen, und auf dem Pflaster waren Stroh und Mist verstreut.
Er drehte sich um und schaute in Richtung der Stadt. Hirō winkte unauffällig von seinem Posten vor dem Burggraben aus, wo er ihren Fluchtweg sicherte. Falls jemand aus einem dieser pfeilschmalen Fenster blickte, würde er den Wachposten mit seinem gefiederten Helm sehen, mit dem Schwert in der Hand und dem Mon der Familie Oda auf der Rüstung. Niemand würde ahnen, dass hier jemand über die Mauer geklettert war.
Aber natürlich ließ sich diese Täuschung nicht lange aufrechterhalten, also mussten sie möglichst schnell den Rückweg antreten.
Und vorher mussten Tarō und Yukiko natürlich noch das oberste Turmzimmer erreichen, den Fürsten Oda töten und lebend wieder hinausgelangen.
Tarō ließ den Blick auf dem noch schlafenden Städtchen mit seinen Strohdächern und Storchennestern ruhen. Dann gestattete er sich einen letzten Blick auf seinen Freund in der geborgten Rüstung.
Immerhin sah er ihn vielleicht gerade zum letzten Mal.
Kapitel 65
Sie ließen sich auf den Stallhof fallen.
Tarō näherte sich der Tür zum Turm, dicht gefolgt von Yukiko, als sich ein Umriss von der Wand löste und auf sie zutrat. Tarō griff nach dem Kurzschwert, das noch in seinem Beutel steckte, doch seine Finger waren kalt und langsam. Der Schemen wurde zu einem Mann mit schwarzer Maske und schwarzer Kleidung, die jeden Zoll seiner Haut bedeckte. Vor dem Gesicht trug er zusätzlich einen Schleier aus grauer Seide.
Namae.
Die ersten Sonnenstrahlen erhellten den Stallhof, doch der Ninja war in seiner dunklen Kleidung gut geschützt. Bald würde er sich zurückziehen müssen, aber noch konnte er sich draußen bewegen.
Sie hatten den Zeitpunkt falsch eingeschätzt.
Tarō zerrte an der Kordel seines Beutels. Anstelle seines Herzens flatterte ein kleiner Vogel in seiner Brust, der hektisch versuchte, dem Käfig seiner Rippen zu entkommen. Er hörte Yukiko hinter sich nach Luft schnappen.
Der Ninja – Tarō konnte seine Augen hinter dem Schleier gerade noch erkennen, und sie wirkten so pechschwarz wie seine Maske – ließ die Hand aus dem Handgelenk vorschnellen, und Tarō spürte einen scharfen Schmerz wie einen Nadelstich in der Brust. Er blickte an sich hinab und sah einen kleinen Pfeil aus seinem Körper ragen.
Endlich schaffte er es, den Beutel zu öffnen und das Wakizashi herauszuziehen, und er schwang es vorwärts. Doch das Kurzschwert kam ihm auf einmal so schwer vor. Er konnte es kaum anheben. Es knallte scheppernd auf die Pflastersteine, als er auf die Knie fiel. Feuer brannte in seinen Adern. Der Pfeil. Er war vergiftet.
Tarō wandte mühsam den Kopf.
Yukiko.
Er sah gerade noch, wie sie fiel, eine Hand an den Hals gepresst.
Der Ninja trat vor und zog sein Kurzschwert. Mit schmalen Augen blickte er auf Tarō herab. »Bloße Kinder schicken sie? Ich weiß nicht, ob ich erfreut oder beleidigt sein soll.« Er hob das Schwert.
Tarō hatte nicht mehr die Kraft, sich zu bewegen. Er schloss die Augen. Es tut mir leid, Vater , dachte er. Ich habe versagt.
Er wusste selbst nicht, welchen seiner Väter er meinte.
Kapitel 66
Mit einem leisen Summen sauste das Schwert auf Tarōs Hals herab. Er spürte den Atem der Klinge, der die Luft bewegte.
Dann hörte er ein kurzes Zischen, das nicht nach einem Schwert klang.
Tarō blickte auf. Das Wakizashi war einen Fingerbreit vor seinem Kopf erstarrt. Der Ninja, der es in der Hand hielt, blickte mit weit aufgerissenen Augen an seinem Arm hinab. Ein Shuriken mit vielzackigen, blitzenden Klingen ragte daraus hervor.
Namae fluchte und griff mit der Schwerthand nach dem Wurfstern.
Wer hat den geworfen? , fragte sich Tarō.
Namae blickte sich um und versuchte offenbar ebenfalls, diese Frage zu beantworten. Tarō versuchte aufzustehen und die Ablenkung zu nutzen, doch seine Beine gehorchten ihm nicht. Yukiko schien das gleiche Problem zu haben. Sie funkelte ihn mit blitzenden Augen an, als sei es seine Schuld, dass sie überrascht worden waren, seine Schuld, dass sie sterben würden. Ihr standen Tränen in den Augen.
»Weg von dem Jungen«, sagte eine allzu vertraute Stimme.
Namae und Tarō drehten sich im selben Moment um und sahen einen weiteren Ninja von der Mauer hinter ihnen auf den Boden springen. Auch sein Gesicht war verhüllt, doch diese Augen erkannte
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