Der Novize des Assassinen: Roman (German Edition)
Es roch nach Fäulnis und nach Blut und Schweiß. Der kreisförmige Raum war dunkel und fensterlos. Auf dem Steinboden kauerte eine Gestalt – kaum als menschlich zu erkennen – unter einer zerlumpten Decke. Als Tarō die Luft anhielt und den Raum betrat, regte sich die Gestalt, und Tarō erkannte eine Frau mit einer Puppe auf dem Schoß. Die Porzellanhaut der Puppe war schmutzig, das Haar eine verfilzte Matte.
Tarō sah genauer hin und schauderte.
Das war keine Puppe. Es war ein totes Kind.
Die Frau hob mit sichtlicher Mühe den Kopf und blickte argwöhnisch, aber resigniert zu ihm auf, als frage sie sich nur, welche neuen Qualen er ihr diesmal zufügen wollte. Ihre Schulterknochen standen hervor. Sie war in Sackleinen gekleidet.
Sprachlos starrte Tarō in das Gesicht seiner Mutter. Sie war einmal sehr hübsch gewesen. Die Herzform ihres Gesichts war unter den Narben und Schrunden noch zu erkennen, und ihre Augen waren schwarz wie die Nacht. Doch es war offensichtlich, dass sie halb verhungert war und schreckliche Misshandlungen hatte ertragen müssen. Er kniete sich neben sie und berührte ihr Haar. Das Kind, das sie fest umklammert hielt, war offenbar schon seit einer Weile tot. Geschwüre waren um seinen Mund getrocknet, und in den Augenwinkeln krabbelten kleine Fliegen. Der Gestank schien hauptsächlich von dem kleinen Leichnam auszugehen, doch Tarōs Mutter klammerte sich trotzdem daran fest, als könnte ihre Umarmung ihn wieder zum Leben erwecken.
Das Kind war nicht älter als vier Jahre.
»Mein Name ist Tarō«, sagte er zu der zitternden Frau, die seine Mutter war. »Ich habe nicht viel Zeit. Ich …«
Er brach ab und schluckte schwer.
»Tarō ist Euer Sohn, Fürstin Tokugawa«, sagte Hana. Auch sie kniete sich ins blutbefleckte Sägemehl, und ihr Seidenkimono breitete sich über den Schmutz.
Die Frau starrte sie an. »Mein Sohn?« Ihre Worte klapperten in ihrer Kehle wie Kiesel in einem Fluss, und Tarō sah, welche Mühe ihr das Sprechen bereitete. »Ich habe nur zwei Söhne. Einer ist von eigener Hand gestorben … Seppuku … ein ehrenhafter Tod für einen Samurai. Der andere ist hier, in meinen Armen.« Sie blickte auf den toten Jungen hinab, küsste ihn auf die Wange und presste ihn dann an sich. »Ihr könnt ihn mir nicht wegnehmen. Ich lasse nicht zu, dass noch einer meiner Söhne stirbt.«
Sie glaubt, der Junge lebt noch , dachte Tarō. Ihr Götter, sie hat den Verstand verloren. Er fragte sich, wie lange sie schon hier eingesperrt sein mochte, allein im Dunkeln.
Aber er würde diese Chance kein zweites Mal bekommen. Er sah ihr fest in die Augen und erzählte ihr, was er von Shūsaku über Daimyō Tokugawas Entscheidung erfahren hatte, ihn geheim zu halten, damit er vor Oda sicher war. Er berichtete ihr von dem Ninja, der ihn gerettet hatte. Und vor allem erzählte er ihr von seiner Vermutung, dass sie seine wahre Mutter sei, diese gebrochene Frau, die hier vor ihm saß.
Fürstin Tokugawa lächelte, und auf diesem geschundenen Gesicht wirkte es traurig. »Komm näher, damit ich mir dein Gesicht ansehen kann.«
Tarō beugte sich vor und kämpfte seinen Ekel vor dem Geruch der Frau nieder.
»Ah. Nein. Ich kenne dich nicht. Es tut mir leid.«
»Aber … aber … «, stammelte Tarō.
Die Fürstin Tokugawa lächelte immer noch. »Ich sagte … du bist nicht mein Sohn.«
Tarō konnte es nicht fassen. »Aber dann … warum …«
Hana legte Tarō die Hand auf den Arm. »Lass sie aussprechen.« Und tatsächlich, die Fürstin Tokugawa öffnete erneut den Mund, um zu sprechen.
»Du bist nicht mein Sohn. Aber der Sohn meines Mannes. Ich sehe es in deinem Gesicht.«
»Aber …« Tarō fuhr zusammen. »Was bedeutet das?«
»Du … hast … eine Mutter?«, fragte die Fürstin. »Eine Frau, die dich großgezogen hat?«
»Ja.«
»Dann … nehme ich an … dass sie deine Mutter ist. Mein Gemahl … ist nicht … treu.«
Tarō wusste nicht, was er sagen sollte. Meine Mutter ist also doch meine richtige Mutter! , dachte er voller Freude.
Und gleich darauf traurig: Aber mein Vater war nicht mein Vater.
Und doch hat er mich mit ihr gemeinsam großgezogen, obwohl er gewusst haben muss, dass der Junge, um den er sich kümmerte, Tokugawas Sohn war.
Tarō wurde von Zuneigung für seinen Ziehvater überwältigt und erinnerte sich an den zerbrechlichen Körper auf dem Bett, den abgeschlagenen Kopf – und die Wut strömte durch seine Adern wie flüssiger Stahl.
Die Fürstin
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