Der Novize des Assassinen: Roman (German Edition)
sich die Tränen vom Gesicht und drückte ihm das Schwert wieder in die Hand. »Ich weine nicht um ihn .« Sie wies mit einem Nicken auf die Biegung der Treppe, wo der Leichnam hinabgerollt war. »Ich weine um den Vater, an den ich geglaubt habe, bis ich heute erfahren musste, dass er nur ein Märchengebilde war.«
»Es tut mir leid«, erklärte Tarō schlicht. Er wusste nicht, was er sonst sagen sollte. Beinahe wünschte er, sie hätte sein Angebot angenommen, die Klinge seinen Hals durchtrennen lassen und ihn dem Nichts überantwortet.
»Ja«, sagte sie. »Das weiß ich. Ich werde dir niemals verzeihen können, dass du meinen Vater getötet hast. Aber ich werde auch nie vergessen, dass du mich vor ihm gerettet hast.«
Sie schluchzte. Dann richtete sie sich auf, als hätte sie all ihre Willenskraft zu einer Stütze geformt, und stand fest und sicher. »Genug«, sagte sie wie zu sich selbst. »Gehen wir.« Sie wandte sich mit besorgtem Blick zu Tarō um. »Kannst du laufen?«
Er nickte.
»Odas Blut hat dich wieder belebt?«, fragte Hirō.
Tarō warf seinem Freund mit schmalen Augen einen Blick zu. Hirō sah zu Hana hinüber und verstummte. Sie wusste ja nichts von Vampiren, diese Prinzessin, und er wollte es ihr später in aller Ruhe erklären.
Er trat einen Schritt zurück und fiel wieder zu Boden.
»Offenbar nicht genug«, sagte Hirō. Mühelos hob er Tarō hoch. »Gehen wir, ehe noch jemand kommt.«
»Was hast du mit …«, begann Hana. Sie starrte Tarōs Zähne an.
»Erkläre ich dir später«, sagte Tarō. Er wandte sich an den Kleinen Kawabata, der sich zurückgehalten hatte, während Tarō mit Hana sprach. »Was tust du hier?«, fragte er. »Ich dachte, du hasst mich.«
Der Kleine Kawabata sah ihn mit schmalen Augen an, doch der Blick wirkte nicht zornig, sondern beschämt. »Ich habe herausgefunden, dass mein Vater euch verraten hat. Er hat Daimyō Oda einen Boten geschickt, um ihn vor euch zu warnen. Ich habe den Berg verlassen, um ihn abzufangen.«
Tarō stellte die Verbindung her. »Der Ninja an der Straße, auf der Ebene vor Nagoya.«
Der Kleine Kawabata nickte. »Das war Vaters Mann. Er war auf dem Weg hierher, um dem Fürsten Oda zu sagen, dass ihr kommen würdet. Ich habe ihn vorher erwischt. Aber ich habe ihn dort liegen lassen, als Warnung an meinen Vater in der Hoffnung, dass er davon erfahren würde.«
Tarō erinnerte sich daran, dass Shūsaku gesagt hatte, die Leiche offen liegen zu lassen komme ihm wie eine Botschaft vor, und offenbar hatte der Ninja-Meister recht gehabt. Doch nun fielen Tarō die glatten, unbedeckten Hände des Kleinen Kawabata auf, deren Haut hell und nicht von der Sonne versengt war. » Wie bist du hier hereingekommen?«, fragte er. »Draußen ist helllichter Tag.«
» Du hast mich verwandelt«, entgegnete der Kleine Kawabata. »Ich vermute, du hast diese Fähigkeit an mich weitergegeben. Mir ist das schon unterwegs aufgefallen.«
Tarō konnte es nicht fassen. Offenbar hatte er den Kleinen Kawabata, indem er ihn gerettet hatte, zu einem viel stärkeren Vampir gemacht, als er beabsichtigt hatte – zu einem Vampir wie ihm selbst, dem das Sonnenlicht nichts anhaben konnte.
Dann war es nur gut, dass der Junge offenbar sein Verbündeter sein wollte, nicht sein Feind.
»Dein Vater …«, begann er. »Ich hätte eher gedacht, dass du seine Pläne unterstützen würdest, statt sie zu vereiteln.«
Der Kleine Kawabata blickte gequält drein. »Ich habe erkannt, dass … mein Vater nicht der Mann ist, für den ich ihn gehalten habe.«
Hana berührte seine Hand. »Ich weiß, wie sich das anfühlt.«
»Wir sollten jetzt wirklich gehen«, sagte Hirō, der ganz normal atmete, als sei Tarōs Gewicht auf seinen Armen höchstens ein wenig lästig. »Später bleibt uns genug Zeit, um über alles zu reden, sofern wir lebendig hier herauskommen.«
»Du hast recht«, erwiderte Tarō. »Hana, kommst du mit uns?«
»Ich glaube«, sagte sie, »das sollte ich besser tun, nicht?«
Hirō stieg langsam und vorsichtig die Treppe hinab, damit er nicht stolperte und Tarō fallen ließ. »Shūsaku ist tot«, sagte Hirō. Seine Arme zitterten jetzt leicht vor Anstrengung.
»Ich weiß«, sagte Tarō. Die Stichwunde von dem Schwert bereitete ihm weniger Qualen als seine Erinnerung an Shūsakus Tod. Die Wunde heilte auch bereits, denn Odas Blut hatte den Prozess beschleunigt. Aber Tarō glaubte, dass die Wunde, die Shūsakus Tod ihm zugefügt hatte, vielleicht nie verheilen
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