Der Novize des Assassinen: Roman (German Edition)
zu ihr auf. Wenn sie wieder in der Burg war, dachte Hana, würde sie zu Pinsel und Tinte greifen und diese Szene auf Papier festhalten. Das Drama des Todes, die Anmut des Sperbers, die Eleganz des in sich verdrehten Zweiges.
Kame kreischte stolz. Krrriiiii, ki, ki.
»Gut gemacht«, sagte Hana. Sie senkte die Hand und bot dem Sperber das Handgelenk mit der Ledermanschette dar. Wie immer in diesem Augenblick hielt sie den Atem an. Würde es heute so weit sein, dass Kame … ? Doch der Greifvogel hüpfte auf ihr Handgelenk, und Hana dankte im Stillen den Kami des Himmels. Rasch wand sie die Riemen um Kames Füße und band sie an ihren ledernen Sitzplatz.
Jetzt kam der schwierigste Teil.
Hana hielt den Arm mit dem Sperber still, schwang das rechte Bein nach außen und in derselben Bewegung nach hinten, als wollte sie einen hohen Halbkreistritt vollführen. Als sich ihr Gewicht im Sattel drehte, zog sie das linke Knie an und nach rechts über den Sattel, so dass sie fast rückwärts im Sattel saß, und ließ sich dann leichtfüßig neben dem Pferd zu Boden fallen. Kame rührte sich nicht.
Hana bückte sich und hob die Taube auf. Sie riss einen Flügel ab und gab ihn Kame. Der Sperber stürzte sich gierig darauf.
Da erst bemerkte Hana die kleine Schriftrolle, die an ein Bein der Taube gebunden war. Sie fluchte. Eine Brieftaube. Zumindest war sie auf die Burg zugeflogen, was bedeutete, dass die Nachricht vermutlich für ihren Vater bestimmt war. Hana graute vor der Vorstellung, was passieren würde, wenn sie ihm eine seiner Brieftauben brachte, der ihr Sperber den Hals gebrochen hatte. Seine Geduld mit ihrer Leidenschaft fürs Reiten und die Beize war bereits arg strapaziert. Er dachte allmählich über ihre Hochzeit nach und welche Allianz er damit schmieden könnte.
Hana entrollte die Botschaft. Sie würde sie ihrem Vater bringen und seinen Zorn ertragen – da er die Nachricht ja trotzdem erhielt, würde dieser vermutlich nicht allzu groß sein. (Vielleicht. Sein Jähzorn war legendär.) Doch erst wollte sie wissen, was darin stand. Konnte es die Nachricht sein, vor der ihr gegraut hatte – die Bestätigung dafür, dass sie mit dem Daimyō irgendeiner fernen Provinz verheiratet werden sollte, dessen Unterstützung ihr Vater brauchte, um sein beständig angestrebtes Ziel zu erreichen, Shōgun zu werden und über ganz Japan zu herrschen?
Aber die Botschaft war eine ganz andere.
Sie bestand aus einer einzigen Zeile, die Schriftzeichen mit unsicherer Hand gepinselt, überhaupt nicht so, wie ein Adliger schreiben würde. Hana starrte verwundert darauf hinab.
Der Junge lebt.
Sie sprang leichtfüßig auf ihr Pferd, wendete es und galoppierte zur Burg zurück. Eine unbestimmte, böse Ahnung regte sich in ihrer Brust.
Es sollte sich herausstellen, dass sie in einem Punkt recht gehabt hatte: Ihr Vater wurde furchtbar zornig. In einem anderen hatte sie sich jedoch geirrt: Sie brauchte seinen Zorn nicht zu ertragen. Er wandte sich von ihr ab, sobald sie ihm die Nachricht übergeben hatte, und sie sah ihn tagelang nicht wieder.
Kapitel 8
Hinter ihnen brannte ein Streifen roten Feuers am Horizont, und vor ihnen ragten die dunklen, ausgebreiteten Arme des Ufers auf. Darüber war schon die Landspitze mit den zwei Gipfeln zu erkennen, die die Bucht von Minata markierte. Tarō legte sich in die Riemen und staunte über die neue Kraft in seinen Armen. Er ruderte beinahe so schnell wie Hirō vorhin, dabei war Hirō derjenige mit den dicken Muskeln.
»Schneller«, brummte Shūsaku mit einem Blick auf den heraufziehenden Sonnenaufgang.
Das sichere Land schien zu weit weg zu sein, doch Tarō konzentrierte sich ganz aufs Rudern und machte aus dem Rhythmus der Riemen eine Art Mantra: auf, ab, ziehen, auf, ab, ziehen … Selbst für ihn war deutlich, dass das Licht im Osten schneller vorankam, als sie sich dem Ufer näherten, und er spürte die Anspannung des Ninja in dessen schnellen Atemzügen. Hirō neben ihm ließ besorgt den Blick über den Horizont schweifen.
Tarōs Finger schlossen sich fester um die Ruder, und seine Hände klebten wie blasse Seesterne am Holz. Seine Arme schmerzten, die Augen brannten vom Salzwasser. Sein Kittel scheuerte an der Innenseite seiner Arme und der Brust, und der nasse Stoff rieb ihm allmählich die Haut wund. Doch er ignorierte das Brennen und fuhr mit seinem rhythmischen Mantra fort.
Auf, ab, ziehen, auf …
Dann spürte er zu seiner Überraschung einen leichten Ruck, mit dem das
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