Der Novize des Assassinen: Roman (German Edition)
finanzielle Macht in Händen, im Gegensatz zum Kaiser, der nur mehr die Rolle einer Galionsfigur spielte. Der jetzige Kaiser war ein kränklicher Junge, der außer einem hübschen Palast nicht viel regierte.
Das Problem war nur, dass das auch für den jetzigen Shōgun galt.
Seit dem Tod des vorherigen Shōgun war dessen kleiner Sohn von sechs Daimyō geschützt worden. Jeder von ihnen stand in der Pflicht, für die Sicherheit des kleinen Shōgun zu sorgen. Der sterbende Shōgun hatte es so eingerichtet, damit jeder der Fürsten die anderen daran hindern würde, sich gegen seinen Sohn zu erheben – dass ihre Rivalität alles in einer empfindlichen Balance halten würde. Bisher hatte sich das als richtig erwiesen, dank eines starken Bündnisses zwischen dem Fürsten Oda Nobunaga, Daimyō von Tarōs Provinz, und dem Fürsten Tokugawa Ieyasu, dem listigen und ebenso mächtigen Daimyō der nördlichen Präfekturen. Nach Odas Sieg bei Okehazama hatten er und Tokugawa ihre Armeen miteinander vereinigt, um ihre beiden benachbarten Provinzen vor kleineren Fürsten zu schützen und die Gesetze des Shōgun durchzusetzen.
Shūsaku gab Tarō eine Ohrfeige. »Trink. Sofort.«
Tarō schwankte. Die liebste Redensart seiner Mutter hallte durch seine Gedanken – das hatte sie zu ihm gesagt, als er Schwimmen gelernt und Salzwasser geschluckt hatte, als er in der Hütte des Heilers gelegen hatte und schwarzes, dickflüssiges Blut aus der Wunde gesickert war, die der Hai gerissen hatte.
Ame futte ji katamaru.
Nach dem Regen wird die Erde hart.
Wie ein Zauber verscheuchten diese Worte den dunklen Schleier, der Tarōs Geist verdüstert hatte, das Zittern in seinen Beinen. Er blickte auf den Mann hinab. Auf mich wird Regen fallen , dachte er. Zum Wesen der Rache gehört das Leid. Aber ich werde stark und hart werden, und ich werde meine Kraft dazu nutzen, meine Mutter zu finden und meinen Vater zu rächen. Die Treuepflicht gegenüber den Eltern galt im Bushidō als höchster aller Werte, und das größte Geschenk, das ein Sohn seinem Vater machen konnte, war die Rache an jenen, die ihm Unrecht getan hatten. Genau wie der große Held Yamatotakeru die Feinde seines Vaters so zahlreich wie Heuschrecken erschlagen hatte, würde Tarō die Männer zur Strecke bringen, die seinen Vater ermordet hatten.
Tarō beugte sich hinab und hob das überraschend leichte Handgelenk an. Der Mann muss Knochen haben wie ein Vogel , dachte er. Das Handgelenk war schmal, die Knochen und Muskeln wirkten unter der faltigen Haut unglaublich klein und zart. Tarō spürte eine beruhigende Hand auf seiner Schulter. Shūsaku.
Tarō unterdrückte ein Würgen und hob den Arm an die Lippen. Er spürte eine seltsame Bewegung in seinem Mund – werden meine Zähne länger? – und biss zu. Dann waren da nur noch der Drang zu beißen, seine Zähne, die sich in Fleisch bohrten, und das heiße, sprudelnde Blut in seinem Mund – und Tarō stellte überrascht fest, dass es gut schmeckte. Mehr noch, es fühlte sich auch gut an, so köstlich wie Wasser, wenn man erhitzt und durstig ist und einem die Zunge wie eine dicke Kröte im Mund liegt. Und dann nahm er nichts mehr wahr als diese heiße Lebenskraft, die er gierig in sich aufsog. Er wollte, dass es immer so weiterging, und spürte, wie sein eigenes Blut aufwallte, sich dem lebendigen Blut entgegenhob und kraftvoller pulsierte denn je zuvor, und –
Grobe Hände zerrten ihn hoch und rissen ihm das Handgelenk des Mannes mit einem schmatzenden Geräusch aus dem Mund.
»Genug«, sagte Shūsaku. »Sonst bringst du ihn um.«
Tarō blickte auf den Mann hinab. Seine Haut wirkte ein wenig bleich, als sei alle Farbe herausgesogen worden. Tarō war schlecht, aber er fühlte sich auch quicklebendig. Warme, samtene Kraft durchflutete seinen arg mitgenommenen Körper, verlieh ihm neue Stärke und lockerte alle seine Gelenke.
»Kommt«, sagte er. »Gehen wir.« Er ignorierte Hirō, der ihn entsetzt anstarrte. Er hatte noch nie eine solche Energie gespürt, solche Konzentration.
Shūsaku nickte. »Du setzt dich in die Sänfte. Hirō und ich werden sie tragen. Nimm den Brief.« Er reichte Tarō die Schriftrolle, auf der ein Wachssiegel mit dem Mon des Hauses Oda prangte, Blumenblätter in Blumenblättern, und das Mon des Shōgun – gekreuzte Schwerter.
»Du wirst außerdem seine Kleidung anlegen«, fuhr Shūsaku fort. »Die Kleider des Gesandten meine ich. Wir wollen hoffen, dass in diesen Zeiten, da Jungen
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