Der Novize des Assassinen: Roman (German Edition)
interessiert mich noch aus einem anderen Grund.« Sie wandte sich Shūsaku zu. »Kennst du die Geschichte von der ersten Ama?«
Er schüttelte den Kopf, und Tarō ebenfalls.
»Es ist eine alte Geschichte«, erklärte die Frau. »Ich hatte sie ganz vergessen, bis gerade eben.« Sie setzte sich Tarō gegenüber. »Möchtest du sie hören? Ich glaube, du würdest sie interessant finden.«
Tarō nickte. »Ja, bitte.«
»Also schön«, sagte die Frau. »Vor etwa tausend Jahren, als alle Männer entweder rohe Krieger oder geckenhafte Adlige waren, kam ein eleganter junger Mann in das Fischerdorf Shirahama, zur Zeit der Kirschblüte, da die Bäume sich in zartes Rosa hüllten. Niemand wusste, woher er gekommen war oder was er in jenem kleinen Ort an der Küste suchte, und deshalb war sich anfangs niemand sicher, ob er nun ein gemeiner Krieger oder ein Edelmann sei.
Eines Abends, als er im Onsen-Wasser badete, brachte eine Dienerin ihm etwas zu essen, und später hörte dieses Mädchen ihn laut ein Gedicht verfassen. Damit war die Frage beantwortet – ein Mann, der die Poesie liebte, war selbstverständlich ein Edelmann und kein Samurai.
Doch in dem Dorf lebte auch ein Mädchen von gewöhnlicher Herkunft und ungewöhnlicher Schönheit, die Tochter eines einfachen Fischers, die manchmal nach Wasserschnecken und Seetang tauchte. Eines Tages ging der Edelmann hinunter an den Strand und sah sie mit einer Handvoll Perlen von einem ihrer Tauchgänge zurückkehren.
Er verliebte sich augenblicklich in sie.
Bald darauf heirateten sie, und genau neun Monate später bekamen sie einen Sohn, den sie nach einem Schrein in der Nähe Fusazaki nannten.
Viele Monate lang lebten sie sehr glücklich miteinander. Doch dann geschah etwas Seltsames: Wenn er des Abends von seinen geheimnisvollen Wanderungen zurückkehrte, sah die Frau ihren Mann immer öfter weinen. Das , so dachte sie, geht ein wenig zu weit, was die poetische Empfindsamkeit betrifft.
Schließlich konnte sie es nicht mehr ertragen und bat ihren Mann: ›Du musst mir sagen, was du hast. Wenn du mich wahrhaftig liebst, dann sag mir, was dich so bedrückt.‹ Und als er in den Augen seiner Frau seine eigenen Tränen gespiegelt sah und den Kummer, den er ihr bereitete, erzählte er ihr die folgende Geschichte, die ein für alle Mal seine adlige Herkunft enthüllte.
Sein wahrer Name lautete Tankai, Sohn des Fujiwara Kamatari, des Kaisers von Japan. Seine jüngere Schwester hatte den Tang-Kaiser von China geheiratet und drei unschätzbar wertvolle Geschenke vom Festland geschickt, die mit ihrem kürzlich verstorbenen Großvater beigesetzt werden sollten. Das erste war eine magische Trommel, die, einmal angeschlagen, fortwährend einen wunderschönen Ton hervorbrachte und erst dann wieder schwieg, wenn sie mit neun Schichten Seide bedeckt wurde. Das zweite Geschenk war ein Tuschstein, den man nur mit einem Stäbchen zu reiben brauchte, damit ein unendlicher Vorrat feinster Kalligrafie-Tinte herausrann. Und das letzte war eine Kristallkugel, die zahlreiche Bilder der Buddhas barg – wie man die Kugel auch drehte, immer blickte dem, der sie hielt, ein Buddha entgegen. Diese kostbaren und wunderschönen Dinge sollten ihrem Großvater in seinem Grab Frieden schenken und ihm zu einer ruhmreichen Wiedergeburt verhelfen.
Doch als das Schiff mit den Geschenken vor der Shido-Bucht segelte, erschnupperte der Drachenkönig des Meeres die Schätze an Bord so deutlich wie Blut, und sogleich entschied er, dass er sie haben musste. Er bat seinen Verbündeten Susanoo, den Kami der Stürme, ein gewaltiges Unwetter heraufzubeschwören, während er selbst Scharen von Haien als lebende Rammböcke aussandte, damit sie Löcher in den Schiffsrumpf schlugen. Die Männer kämpften tapfer und schleuderten Harpunen in die aufgewühlte See, doch zu ihrem Schrecken begann das Schiff sich zu neigen, und sie fürchteten den sicheren Tod. Der kluge Kapitän nahm die Buddha-Kugel und warf sie rasch ins Meer. Und tatsächlich: Der Sturm flaute ab, der Regen hörte auf, und die Haie verschwanden im dunklen Wasser. Auch die Familie war froh, denn die beiden übrigen Geschenke stellten immer noch prächtige Grabbeigaben für Großvater Kamatari dar.
Doch Tankai konnte nicht aufhören, an die Buddha-Kugel zu denken, obwohl er sie nur von Beschreibungen kannte. Er begab sich auf die Reise, segelte zum Ort des Angriffs auf das Schiff und tauchte selbst ins Wasser, um nach dem Schatz zu suchen. Aber die
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