Der Novize des Assassinen: Roman (German Edition)
den Text des Herz-Sutra auf Sanskrit, um den Blinden vor den Geistern zu schützen. Er sagte, dank der Macht der Symbole würden sie Hōichi nicht mehr sehen können. Kommt dir das bekannt vor?«
»Ihr Götter«, sagte Taro. »Daher hat Shūsaku also diese Idee.«
»Vermutlich. Aber er ist dabei so arrogant und überheblich wie immer.« Diesen harten Worten zum Trotz sprach eine Art trauriger Bewunderung aus ihrer Stimme. »Er fordert das Schicksal heraus.«
»Warum? Das verstehe ich nicht.«
»Der Priester vergaß, Hōichis Ohren zu bemalen. Als die Geister ihn holen wollten, sahen sie nur seine Ohren. Sie rissen sie ab, und er verblutete. Deshalb heißt die Geschichte ›Hōichi der Ohrlose‹.«
Tarō stieß den Atem aus. »Ich verstehe«, sagte er.
Doch er dachte: Deine Augen werden dich verraten . Wie bei Hōichi, so war auch bei Shūsaku ein kleiner Teil seines Körpers nicht mit Schrift bedeckt. War es das, was die Äbtissin gesehen hatte? Würden seine Augen ihn an einen bösen Geist verraten – an einen Hungergeist oder einen Ninja? Bei dem Gedanken lief Tarō ein Schauer über den Rücken, doch Heikō zuliebe lächelte er.
»Aber wir sind schon fast am Berg, oder?«, sagte er. »Das ist der Unterschlupf der Ninja. Einen sichereren Ort kann es gar nicht geben.«
»Das wollen wir hoffen«, erwiderte Heikō. Dann verfiel sie in Schweigen und sagte mindestens ein Ri lang nichts mehr, während ihr Weg immer steiler bergan führte.
Bald erreichten sie das letzte Tal vor dem Zugang zum heiligen Berg. Shūsaku ermahnte alle, sich noch vorsichtiger zu bewegen als zuvor. Hier, in unmittelbarer Nähe des geheimen Ninja-Lagers, war es am allerwichtigsten, dass sie von niemandem gesehen wurden.
Lautlos stahlen sie sich an einem dunklen Dorf vorbei. Rauch stieg aus einem Kamin auf. Die anderen waren still und kalt. Als sie durch einen trockenen Bewässerungsgraben schlichen, schreckten sie einen Reiher auf, der sich mit lautem Flügelschlag in die Luft erhob. Tarō geriet einen Moment lang in Panik und warf sich zu Boden, ehe er die Silhouette des Vogels vor der abnehmenden Mondsichel entdeckte.
Erst, als sie die Reisterrassen hinaufgestiegen waren und die Hütten des Dorfes unter ihnen so klein wie Spielzeughäuser wirkten, merkte Taro, dass er in dem Graben seinen Bogen hatte fallen lassen.
Er winkte Shūsaku heran, der leise mit der Zunge schnalzte, als Tarō ihm erklärte, was passiert war. »Ein gewöhnlicher Bogen wäre schon schlimm genug. Aber ein Tokugawa-Bogen? Wenn ihn jemand findet, wäre das unmöglich zu erklären.«
»Ich weiß«, sagte Tarō. »Es tut mir leid.« Und natürlich sorgte er sich nicht nur, weil es ein Tokugawa-Bogen war – schlimmer war die Vorstellung, dass er vielleicht, nur vielleicht, die Buddha-Kugel enthielt. Wenn ein Bauer sie finden sollte, wäre das eine Katastrophe. Er spürte, wie sein Herz raste, und sagte sich, dass einem Bauern der dicke Griff wahrscheinlich gar nicht auffallen würde. Schließlich hatte er ihn selbst nicht bemerkt, und Shūsaku auch nicht. Nur das vornehme Mädchen hatte das gesehen.
Und außerdem gab es die Buddha-Kugel sowieso nicht wirklich.
Vermutlich.
Er biss sich auf die Lippe. »Ich gehe zurück und hole ihn. Warte hier mit Hirō und den Mädchen.«
Shūsaku widersprach, doch Tarō blieb hartnäckig. Schließlich gab der Ninja nach. »Geh, aber beeile dich.«
Kapitel 33
Tarō lief ins Tal hinab zum Dorf. Er bewegte sich schnell, hielt sich aber dennoch dicht am Boden, um möglichst nicht als Silhouette vor dem Mond zu erscheinen.
Dann sah er ihn – einen Schatten zwischen den Bäumen. Außerdem hörte er jemanden singen, das unmelodische Gebrumm eines Mannes, der zu viel Reiswein getrunken hat. Tarō verschmolz mit den Schatten der Bäume und folgte der Stimme. Als er näher herankam, sah er, dass der Mann etwas in der Hand hielt.
Einen Bogen.
Der Betrunkene sang ein selbst gedichtetes Lied vor sich hin. »Hab einen Bogen gefunden, den verstecke ich fein, denn ich will ja nicht, dass meine Frau ihn sieht, oh nein. Hab einen Bogen gefunden, den verkaufe ich prompt, denn ich will ja nicht, dass meine Frau … was abbekommt. Ha, ha! Das war gut, Itō!«
Tarō wunderte sich kurz, wer Itō sein mochte, und begriff dann, dass der Mann mit sich selbst sprach. Tarō überdachte seine Möglichkeiten. Der Bauer war offensichtlich betrunken. Er würde sich vielleicht gar nicht daran erinnern, dass er den Bogen gefunden hatte,
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