Der Novize des Assassinen: Roman (German Edition)
Ringer braucht ein Mädchen, das auf ihn aufpasst.«
Hirō brummte. »Nur gut, dass es hier so finster ist, sonst würdest du jetzt in gewaltigen Schwierigkeiten stecken.« Dann jaulte er auf und rempelte Tarō an. »Etwas hat mich getroffen. Was war das?«, fragte er mit unverkennbar ängstlicher Stimme.
»Nur gut, dass ich kein Licht brauche, um dich zu sehen«, erwiderte Yukiko. »Du nimmst ja den ganzen Tunnel ein. Wenn er nicht bald ein bisschen breiter wird, könntest du hier unten stecken bleiben, für immer …«
Hirō lachte hohl. »Je schneller wir hier herauskommen, desto besser. Für mich jedenfalls. Nicht für Yukiko. Sie ist schon so gut wie tot.«
Tarō erging es nicht viel besser als Hirō. Seine Finger strichen sacht an einer kalten, feuchten Wand entlang, deren raue, schartige Oberfläche an seinen Fingerspitzen kratzte. Sie fühlte sich klamm an, und Tarō empfand eine irrationale Angst davor, dass seine Hand plötzlich nicht mehr Stein, sondern Fleisch berühren könnte – das Gesicht oder die Zähne eines Dämons, der in einer Felsnische lauerte, oder die knotige Hand eines grausigen alten Mannes, der ihm hier unten auflauerte. Das Gefühl erinnerte ihn auf unangenehme Weise an ein Spiel, das er einmal mit seiner Mutter gespielt hatte. Als das Feuer erloschen war, hatte sie ihm im Dunkeln mehrere offene Beutel hingehalten und gesagt, er solle seine Hand hineinstecken und den Inhalt erraten. In einer waren Würmer gewesen, in anderen ein Seestern oder ein kleiner Tintenfisch. Eines hatte ein Stück Walfett enthalten, das sich glatt und glibberig anfühlte. Tarō hatte vor jungenhafter Freude gequietscht, doch das Spiel hatte ihn auch geängstigt, denn in der Sekunde, ehe er etwas ertastete, ehe er riet und seine Antwort sich als richtig oder falsch herausstellte, hätte der Beutel alles enthalten können, was seine Fantasie ihm vorspiegelte. Ein Nest mit Babyschlangen vielleicht, eine abgetrennte Hand oder irgendein Organ.
Welche grässlichen Dinge könnten an dieser Wand leben und nur darauf warten, dass seine Finger darüberstrichen?
Tarō zwang sich weiterzugehen und kämpfte gegen den Drang an, die Hand von der Wand wegzuziehen. Er konnte vor sich jemanden atmen hören und versuchte, seinen hämmernden Herzschlag und seinen eigenen Atem zu beruhigen. Das war natürlich Shūsaku. Wer hätte es denn sonst sein sollen? Aber da war immer noch kein Licht, und wer auch immer sich vor ihnen befand, sprach sie nicht an.
Tarō spürte, wie Hirō seine Hand fester packte. Sie waren dieser atmenden Person jetzt sehr nahe. Tarō konnte jemanden vor ihnen fühlen . Er verlangsamte ängstlich den Schritt, fest überzeugt davon, dass die Wände immer näher zusammenrückten, dass sie in eine Falle gelaufen waren, aus der sie nicht mehr würden umkehren können.
Dann flammte ein Licht auf. Tarō tanzten bunte Flecken vor den Augen, und in der blendenden Helligkeit wurde langsam Shūsakus Gestalt erkennbar. Er hielt eine Fackel in der Hand. »Kommt«, sagte er. »Gehen wir wieder hinaus ins Mondlicht.«
»Du hattest diese Fackel schon die ganze Zeit?«, fragte Yukiko. »Das war grausam.«
»Wir entzünden sie erst, wenn wir tief unter dem Fels sind«, erklärte Shūsaku. »Damit kein Licht durch die Ritzen der Hütte dringt. Das könnte Verdacht erregen.«
Sie folgten ihm noch eine Weile. Tarō hätte nicht sagen können, wie lange, doch er hatte das Gefühl, dass sie eine ziemlich weite Strecke gelaufen waren, mindestens so lang wie der Strand zu Hause. Jetzt, da sie Licht hatten, war der Tunnel nichts weiter als das: ein einfacher Gang im Fels, nicht im Mindesten beängstigend.
Kapitel 35
Allmählich wurde es im Tunnel heller, und die Schatten, die Shūsakus Fackel warf, schrumpften. Der Gang wurde auch breiter, bis sie schließlich in eine große Höhle traten, in deren Wände kunstvolle Reliefs eingemeißelt waren – Dämonen, Bodhisattvas, Tiere und anmutige Apsaras mit Musikinstrumenten. Die Decke der Höhle war mit glatten, schwungvollen Bögen unter dem Fels verziert, die beinahe den Eindruck erweckten, dass die kleine Gruppe im Brustkorb eines riesigen Geschöpfs stand. In tausenden kleinen Nischen in den Wänden flackerten Kerzen und erfüllten die Höhle mit einem unsteten gelblichen Licht und dem Geruch von Talg.
Tarō blickte sich staunend und mit offenem Mund um. Die Höhle war wie ein Tempel; sie war prachtvoll. So etwas hatte er noch nie gesehen.
Shūsaku stupste seine
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