Der Novize des Assassinen: Roman (German Edition)
Urin abreiben musste, verachteten ebendiese Samurai die Eta und ihre Kinder. Selbst die Kinder von Bauern lernten von klein auf, Eta zu verachten. Der Buddha verbot das Töten von Tieren, deshalb wollte kein vernünftiger Mensch etwas mit der Zurichtung von Material zu tun haben, das durch ebendiesen Tod entstand.
Natürlich verbot der Buddha es nicht, Leder zu tragen . Er verlangte nur, dass andere Leute – Unberührbare – es herstellten.
Während Jun’ichirō den Hang hinabstieg, konnte er den säuerlich-süßlichen Gestank von Tierhäuten in der Weiche riechen.
Jun’ichirō hatte sich selbst nie als unrein betrachtet. Er wusch sich täglich, wie alle anderen auch, und als Kind war ihm nicht bewusst gewesen, dass er anders war. Also hatte er stur und in kindlicher Hoffnung immer wieder versucht, bei den Spielen der Kinder im Dorf mitzumachen. Doch die Hoffnung war ihm mit Stöcken und Steinen ausgetrieben, die Sturheit von fliegendem Matsch aufgeweicht worden.
Das Essen war auch so eine Sache. Die Ernte war schlecht ausgefallen dieses Jahr, hatte sein Vater ihm erklärt, und der Anteil Reis, den die Eta normalerweise als Lohn für ihre Arbeit bekamen, war halbiert worden. Alle litten Hunger. Jun’ichirō hatte gesehen, wie ältere Gerber, entfernte Verwandte seiner eigenen Familie, an Leder saugten, um ein wenig Kraft daraus zu beziehen. Vor dem Reisspeicher waren Wachen aufgestellt worden, um die Nahrungsvorräte des Dorfes vor marodierenden Diebesbanden oder der hungrigen Bevölkerung anderer Dörfer zu schützen.
Als Jun’ichirō daher eine fette Taube sah, die sich mit kräftigen, anmutigen Flügelschlägen bergaufwärts näherte, griff er automatisch nach seiner Schleuder. Er bückte sich, hob ein rundes Steinchen auf und drückte es in das breite Stück Leder. Seine Mutter würde sich freuen, wenn er etwas zum Abendessen mit nach Hause brachte – richtiges Fleisch! Die Eta waren bereits Ausgestoßene, welche die Liebe Buddhas nicht erreichten konnte, also fürchtete er sich nicht vor den Schrecken, die angeblich jene Buddhisten erwarteten, die andere Lebewesen töteten. Deshalb verließen sich die Samurai ja darauf, dass die Eta sie mit Leder versorgten. Und während die Bauern nur Reis und hin und wieder Fisch aßen, nutzten die Eta zum Überleben alles, was sie ergattern konnten.
Jun’ichirō wickelte sich die Schnüre gekonnt um die Finger, wirbelte die Schleuder über seinem Kopf herum und ließ den Stein fliegen. Er traf die Taube, die beinahe direkt über ihn hinwegflog, mit einem dumpfen Knirschen, und der Vogel stürzte zu Boden und landete auf einem Stein am Bach. Jun’ichirō rannte hinüber und drehte ihr den Hals um, damit sie nicht zu lange leiden musste und vor allem nicht herumflatterte und am Ende noch im Bach landete, um bergabwärts davongespült zu werden.
Er wollte sich die Taube unter die Kleidung stecken, als er bemerkte, dass etwas um eines ihrer Beine gebunden war. Er band es los und stellte fest, dass es ein kleiner Brief war, in ganz ordentlichen, winzigen Zeichen geschrieben. Wenn er hätte lesen können, hätte er erkannt, dass die Strichführung die einer Frau war. Wenn er hätte lesen können, hätte er auch die kurze Botschaft verstanden:
Mein lieber Tarō, ich verstecke mich im Hokugawa-Kloster in der Nähe des Berges Fuji. Erkundige Dich nach der Eremitin, wenn Du kommst.
Deine liebende Mutter.
Doch er konnte nicht lesen, also zuckte er nur mit den Schultern, knüllte die Botschaft zusammen und ließ sie zu Boden fallen. Denn für einen so hungrigen Menschen wie ihn war eine Brieftaube etwas völlig Unbekanntes. Sie war nur etwas zu essen.
Kapitel 40
Tarō machte sich zwar weiterhin Sorgen wegen seines Bogens, doch er konnte sich auch in der folgenden Nacht nicht hinausschleichen, und auch nicht in der darauf.
Er war zu erschöpft.
Da war zunächst einmal das Schnarchen des Kleinen Kawabata, das tatsächlich so schlimm war, wie man es ihm geschildert hatte, und das ihn die halbe Nacht lang wach hielt. Und dann war da noch das Training.
Am ersten Morgen nach ihrer Ankunft hatte Tarō das Gefühl, kaum geschlafen zu haben, als er von einer Hand geweckt wurde, die grob an seiner Schulter rüttelte. Er blickte auf und sah Shūsaku, der sich über ihn beugte. »Komm mit«, sagte der Ninja. »Es wird Zeit, dass du den Umgang mit Waffen lernst. Jetzt, da wir im Krater sind, können wir noch vor Anbruch der Nacht mit dem Üben beginnen,
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