Der Olivenhain
Elizabeth konnte nicht glauben, wie groß er geworden war. »Sein Vater muss ein Sumoringer sein.«
»Sein Vater ist ganze ein Meter achtundsechzig«, sagte Erin und setzte sich Elizabeth gegenüber in den Lehnstuhl. »Wir werden ihn in Australien treffen.«
»Wie bitte?« Das Baby grapschte nach ihrer Nase.
»Ich schätze, nachdem seine Frau ziemlich lange sauer war, will sie Keller nun doch kennenlernen. Die beiden haben ja keine Kinder.«
»Sei vorsichtig«, sagte Elizabeth.
»Ich werde alle im Auge behalten«, sagte Anna, die gerade ins Wohnzimmer kam. »Im Übrigen wird es dem Kind guttun zu wissen, wer sein Vater ist.«
Erin wurde rot. »Ich schätze, ich war eine Zeit lang plemplem. Im Rückblick kommt es mir albern vor, so einen Wirbel um einen Mann zu machen, der mich nicht geliebt hat.«
Anna lachte. »Wir waren alle schon mal plemplem wegen Männern. Sei nur froh, dass du mehr von uns hast als von deiner Mutter. Das war plemplem.«
»Grandma!«, rief Erin aus.
»Ich glaube allmählich, dass wir unsere Tragödien zu ernst nehmen«, sagte Anna. »Was soll Gott tun? Die Keller-Familie mit immer neuen Schicksalsschlägen heimsuchen? Er dürfte inzwischen wissen, dass das bei uns nicht so gut funktioniert.«
Elizabeth konnte sich ein Lachen nicht verkneifen. Die Neuigkeit über Annas Abstammung hatte sie alle ein wenig offener gemacht. Sie ließ Keller auf ihren Knien wippen, brabbelte mit ihm und dachte darüber nach, wie es wohl sein würde, den Winter allein in Hill House zu verbringen. Sie hatte beschlossen, nicht nach Australien zu reisen – sie wäre zu lange von Frank getrennt. Es war kein einziger Tag vergangen, an dem sie ihn nicht besucht hatte, seit er im Golden Sunsets lebte.
»Sei nicht zu wild mit ihm. Er hat gerade getrunken und neigt dazu …«
»O nein!« Elizabeth hielt das Baby von sich weg und ließ es auf den Boden spucken. Auf ihrem Hosenanzug zeigten sich sauer riechende Milchflecken. Sie reichte das Baby Anna, die lachte.
»Du hattest noch nie ein Händchen für Babys. Versteh mich nicht falsch. Wenn sie erst einmal laufen konnten, warst du die beste Mutter, die ich je gesehen habe. Als Säuglinge hast du sie allerdings kaum ertragen.«
»Du siehst ja jetzt, warum«, sagte Elizabeth und verließ den Raum, um sich umzuziehen. Sie war heute Morgen mit Callies Makler verabredet, um ihm die Schlüssel für den Pit Stop auszuhändigen. Ihre Tochter betrieb inzwischen einen Online-Shop und hatte Grundstück und Gebäude an einen Unternehmer verkauft, der dort eine Autobahnkirche für Lkw-Fahrer eröffnen wollte. Sie zog sich um und gab Keller einen Kuss auf die Stirn, bevor sie ging.
»Tante Bets!«, rief der Makler, als Elizabeth aus dem Auto stieg. Er war ein junger Bursche und entfernt mit den Kellers verwandt. Die Verwandtschaftsverhältnisse in Kidron waren kompliziert.
Sie winkte ihm zu, wobei die Ladenschlüssel in ihrer Hand aufblitzten. Der Mann, der den Laden gekauft hatte, stand mit dem Rücken zu ihr und spähte gerade durch ein Fenster ins Innere des Ladens. Der Mann trug ein kariertes Hemd, die Ärmel hatte er bis zu den Ellbogen hochgekrempelt. Seine Unterarme waren stark behaart, und seine Tätowierung erinnerte Elizabeth an Popeye.
»Endlich hat es aufgehört zu regnen«, sagte der Makler. »Kein guter Sommer, um Häuser zu verkaufen. Kein Mensch aus der Gegend verlässt freiwillig das Haus, wenn er draußen nur nasse Füße bekommt.«
»Na, dann war es wohl mein Glück, dass ich nicht von hier bin«, sagte der Mann. Er streckte Elizabeth eine Hand entgegen. »Dennis mein Name. Man hat mir schon viel von euch Keller-Frauen erzählt – dass ihr so unglaublich jung ausseht. Und es stimmt, Sie sehen keinen Tag älter aus als sechzig.«
Elizabeth entspannte sich. »Vielen Dank. Mein Mann hält mich oft für seine Krankenschwester, und die ist noch nicht einmal fünfzig.«
Sie lachten, und Elizabeth schloss den Laden auf, um ihm das Inventar zu zeigen, das im Kaufpreis inbegriffen war. Die Leuchtstoffröhren flackerten, als sie das Licht anknipste. Die Luft war abgestanden und roch nach verbranntem Kaffee. Die gesamte Ware war in der Woche zuvor von Callies Hilfskräften verpackt und verschickt worden. Sie deutete auf die Regale und die Kasse. »Das gehört alles Ihnen, auch wenn ich nicht genau weiß, ob Sie es gebrauchen könnten.«
»Der Herr hat nichts dagegen, wenn ich meiner Gemeinde ein paar Artikel des täglichen Bedarfs verkaufe«, sagte Dennis.
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