Der Olivenhain
Brüste waren stumpf und unempfänglich wie ihre übrige Haut, empfindungslos.
»Sag das nicht.« Erin sah Elizabeth nicht an. »Du hast noch so viele Jahre vor dir. Ich erwarte, dass du bei Kellers Abschlussfeier dabei bist – und es werden noch weitere Kinder kommen.«
Elizabeth wäre besser nicht so ehrlich gewesen. Sie nahm alles zurück, legte ihrer Urenkelin die Hand aufs Knie und versicherte ihr, dass sie für alle Zeit da sein würde. »Wenn du so alt bist wie ich, haben sie vielleicht schon ein Mittel gegen den Tod gefunden. Für jeden von uns. Und füllen Unsterblichkeit in Flaschen ab.«
Keller war inzwischen eingeschlafen; die beiden standen auf und gingen hinaus auf die Veranda, wo Anna immer noch in ihrem Schaukelstuhl saß. Sie redeten über ihre bevorstehende Reise nach Australien. Erin und Anna wurden ganz aufgeregt bei dem Gedanken, möglicherweise jemanden zu finden, der ihre Gene hatte, dieselbe Mutation. Elizabeth blickte in die Abendsonne und fragte sich, wie sie ihre Geheimnisse bis in alle Ewigkeit für sich behalten sollte.
6.
Veredelung
A m nächsten Morgen ging Elizabeth im Olivenhain spazieren. Ungeduldig, dass der Tag endlich beginnen möge, verließ sie ihr Zimmer noch vor Sonnenaufgang. Ihr Schlaf hatte sich mit dem Alter verändert. Früher, als ihre Kräfte noch unverbraucht gewesen waren, schlief sie immer wie ein Murmeltier und erwachte morgens in derselben Position, in der sie abends eingeschlafen war.
Doch irgendwann in den Siebzigern, Frank wohnte inzwischen im Seniorenheim Golden Sunsets, kam die Schlaflosigkeit. Oft wachte sie auf, wenn der Morgenstern noch am Himmel stand, dann ging sie hinaus in den Hain und betrachtete die Bäume. Man sah den Bäumen den Herbst an. Sie ließ ihre Finger über einige Äste im älteren Teil des Hains gleiten, Zweige, die sie zusammen mit ihrem Vater aufgepfropft hatte. Nach über einem halben Jahrhundert sahen die Äste inzwischen aus, als wären sie schon ihr ganzes Leben lang ein Teil des Baumes gewesen.
An der Verbindungsstelle, dort, wo ihr Vater die Zweige einst ineinandergekeilt hatte, war die Rinde dicker, wie Narbengewebe über einer alten Brandwunde. Aus den Zweigen waren kräftige Äste geworden, die ihre eigenen Zweige, ihr eigenes Geflecht aus Schösslingen ausgetrieben hatten und dem Baum so seine charakteristische Form verliehen.
Sie schlenderte in den neueren Teil des Hains und begutachtete, was die Vorarbeiter geschafft hatten. Alles war anders, seit sie ihre Plantagen verpachteten und nichts weiter tun mussten, als die Steuern für ihr Land zu zahlen. Die neueren Bäume gehörten Elizabeth nicht; hier verspürte sie nicht das Bedürfnis, mit ihnen zu sprechen, ihnen zu schmeicheln, damit sie schöne Oliven hervorbrachten. Sie war als Kind nicht auf ihnen herumgeklettert.
Die ersten rosa- und orangefarbenen Sonnenstrahlen schimmerten durch den Hain. Elizabeth machte sich auf den Rückweg zum Haus. Nun, da die Sonne aufging, konnte sie ihren Mann besuchen gehen. Es war falsch gewesen, ihren Besuch am Vortag ausfallen zu lassen, darum wollte sie heute so früh wie möglich dort sein. Als sie aus dem Schutz der Bäume heraustrat, blähte der Wind ihre Hosenbeine auf, und sie eilte ins Haus zurück.
Trotz des frühmorgendlichen Spaziergangs durch den Olivenhain traf sie viel zu früh am Seniorenheim ein. Die Morgenschicht begann um sieben Uhr, doch die Schwestern kannten sie und würden sie schon vor Beginn der eigentlichen Besuchszeit um neun Uhr einlassen.
Sie sah das Personal der Nachtschicht durch die elektrische Glastür taumeln und müde in die Morgendämmerung blinzeln. Sie war überrascht zu sehen, dass die meisten von ihnen hispanischer Herkunft waren, und während sie über den Parkplatz zu ihren Autos liefen, wünschte sich Elizabeth, sie würde die spanischen Gesprächsfetzen verstehen.
Frank trug einen Hut, eine Melone, glaubte Elizabeth, und seine weißen, zu langen Haare hingen fransig über seinen Hemdkragen. Amelia, die Empfangsschwester, erklärte, dass es ihm heute gutginge.
»Er ist richtig aufgekratzt. Spaziert herum, singt ›We’re in the Money‹ und erzählt jedem, dass heute ein guter Tag ist, um Lotto zu spielen.« Die Frau schielte zu Elizabeth hinauf und lächelte. »Ich denke, ich werde mir in der Mittagspause ein Los kaufen.«
Durch die offene Tür zum Gemeinschaftsraum beobachtete Elizabeth Frank eine Weile. Ihr Mann war bester Laune, und sie wusste, wenn sie ihn nach dem Krieg
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