Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Der Omega-Punkt: Roman (German Edition)

Der Omega-Punkt: Roman (German Edition)

Titel: Der Omega-Punkt: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Don DeLillo
Vom Netzwerk:
er keinen klaren Kontext zum Dominieren mehr hatte, nur knackige Abwehr. Erst auf der Straße sagte er etwas, vor allem über sein schmerzendes Knie. Kein Film, keinen Zweck, kein bisschen.
    Eine Woche später rief er an und sagte, er sei an einem Ort namens Anza-Borrego in Kalifornien. Ich hatte noch nie davon gehört. Dann kam eine handgezeichnete Landkarte mit der Post, Straßen und Jeeprouten, und am nächsten Nachmittag bestieg ich einen Billigflieger. Zwei Tage, dachte ich. Höchstens drei.

3
    Jeder verlorene Augenblick ist das Leben. Das weiß niemand außer uns, jeder von uns, unformulierbar, dieser Mann, jene Frau. Die Kindheit ist verlorenes Leben, jede Sekunde zurückgewonnen, sagte er. Zwei Kleinkinder allein in einem Zimmer, bei schummrigstem Licht, Zwillinge, lachend. Dreißig Jahre später, eins in Chicago, eins in Hongkong, sie sind das Thema jenes Augenblicks.
    Ein Augenblick, ein Gedanke, da und wieder fort, jeder von uns, irgendwo auf einer Straße, und das umfasst alles. Ich fragte mich, was er mit alles meinte. Das nennen wir das Selbst, das wahre Leben, sagte er, das wesentliche Dasein. Es ist Selbst in dem lauen Wasser dessen, was es kennt und weiß, und es weiß eines, nämlich dass es nicht ewig leben wird.
    Wenn ich ins Kino ging, blieb ich immer sitzen, bis der komplette Abspann gelaufen war. Diese Praxis arbeitete gegen Intuition und gesunden Menschenverstand. Ich war Anfang Zwanzig, ungebunden in jeder Hinsicht, und ich verließ meinen Sitz erst, wenn sämtliche Namen und Berufsbezeichnungen vollständig durchgelaufen waren. Die Berufsbezeichnungen waren wie die Sprache aus irgendeinem uralten Krieg. Klappe, Waffenmeister, Galgenführer, Kostüme Komparserie. Ich verspürte einen Zwang, sitzen zu bleiben und zu lesen. Es war ein Gefühl, als kapitulierte ich vor einem moralischen Versagen. Der extremste Fall geschah nach der letzten Aufnahme einer großen Hollywood-Produktion, als der Abspann losging, ein Prozess, der fünf, zehn, fünfzehn Minuten dauerte und Hunderte von Namen beinhaltete, tausend Namen. Das waren Aufstieg und Fall, ein exzessives Spektakel, fast wie der Film selbst, aber ich wollte, dass es nicht aufhörte.
    Es gehörte zu dem Erlebnis dazu, alles war von Bedeutung, nimm’s auf, halt es aus, Stuntfahren, Kulissenaufbauen, Honorarbuchhaltung. Ich las die Namen, alle, die meisten, echte Menschen, wer waren sie, warum so viele, Namen, die mich im Dunkeln verfolgten. Als der Abspann fertig war, saß ich allein im Kino, vielleicht hockte noch irgendwo eine alte Frau, verwitwet, Kinder rufen nie an. Ich hörte damit auf, als ich anfing, in dem Business zu arbeiten, obwohl ich es nie als Business betrachtete. Es war Film, nur das, und ich war fest entschlossen, einen zu machen, zu erschaffen. A film. Un film.
    Hier, bei den beiden, vermisste ich Filme nicht. Die Landschaft fing an, normal auszusehen, Hitze war Wetter, und Wetter war Hitze. Allmählich begriff ich, was Elster gemeint hatte, als er sagte, die Zeit sei blind hier. Jenseits der ortstypischen Sträucher und Kakteen nur Wellen von Raum, gelegentlich ferner Donner, das Warten auf Regen, der Blick über die Hügel auf eine Bergkette, die gestern da war, heute verloren in leblosem Himmel.
    »Hitze.«
    »Genau«, sagte Jessie.
    »Sagen Sie das Wort.«
    »Hitze.«
    »Spüren Sie, wie es auf Sie einschlägt.«
    »Hitze«, sagte sie.
    Sie saß in der Sonne, zum ersten Mal bekam ich das mit, sie trug, was sie immer trug, Jeans, jetzt bis zu den Waden hochgerollt, Ärmel bis zu den Ellbogen, und ich stand im Schatten und beobachtete sie.
    »Sie werden sterben, wenn Sie das tun.«
    »Was?«
    »In der Sonne sitzen.«
    »Was gibt es sonst zu tun?«
    »Drinnen bleiben und den Tag planen.«
    »Wo sind wir eigentlich?«, fragte sie. »Weiß ich das überhaupt?«
    Ich benutzte mein Handy nicht und rührte meinen Laptop praktisch nicht an. Sie wirkten allmählich schwach, egal welche Geschwindigkeit und Reichweite sie hatten, Geräte, überwältigt von der Landschaft. Jessie versuchte, Science-Fiction zu lesen, aber nichts, was sie bislang gelesen hatte, schaffte es auch nur annähernd, dem gewöhnlichen Leben auf diesem Planeten das Wasser zu reichen, sagte sie, es war schier unvorstellbar. Ihr Vater fand zwei Hanteln in einem Schrank, sieben oder acht Pfund jeweils, made in Austria. Wie lang lagen die schon da? Wie waren sie dort hingekommen? Wer hatte sie benutzt? Er fing jetzt an, sie zu benutzen, stemmte und atmete, stemmte

Weitere Kostenlose Bücher