Der Opal
kleine, nicht unangenehme Kälteschauer über ihre Haut. Die Passage englouti war nicht zu sehen, aber eine der Glasfähren schwebte ganz in der Nähe, von dort aus wurde das Mondo projiziert, das Latil am Strand entlang begleitete. Grober Muschelsand reizte ihre empfindlichen Sohlen. Dies war die Nachtseite Keiks, ein unbekannter Ozean (das Schiff hätte ihr alles dazu sagen können, wenn sie nur gewollt hätte), der Himmel über ihr war kaum dunkelblau, die grauen Wellen brachen sich mit einer beruhigenden Zuverlässigkeit am Strand und machten dabei das zu erwartende Geräusch, die Temperaturen waren gerade noch angenehm. Keine untergehende Sonne. Ein schmales Feuerband am ganzen Horizont entlang, die Tag-Nachtgrenze, die am nächsten Morgen erst zu einem Wall, dann zu einer Wand und schließlich zu einem blendend weißen Schirm über den ganzen Himmel anwachsen würde. Abgesehen von den seltsamen Beleuchtungsverhältnissen war Keik eine Normalwelt, schmerzhaft normal. Tief im Landesinneren schwebten die größten Taanschiffe über Lichtungen in den ausgedehnten Wäldern und wussten nicht, was sie dort tun sollten. Zwar waren genug Begleiter versammelt, es waren immer genug Begleiter da, und man hätte sie abweiden können wie einst die irdischen Wale den antarktischen Krill, aber die Schiffe hatten keinen Hunger.
Latil hatte abgewunken, als das Schiff ihr die bizarren Bilder von fliegenden Städten über den Wäldern präsentieren wollte, und hatte einen Ausflug zu Meer vorgeschlagen. Die Passage englouti hatte widerstrebend eingewilligt, Eytarri hatte Grimassen geschnitten, sie waren schließlich geflogen. Latil warf sich noch einmal ins Wasser. Es war so richtig, so natürlich, so gut. Wo kamen diese Wörter her? Wann hatte sie zuletzt etwas richtig genannt oder natürlich’? Lange her, lange her. Sie schwamm wie eine Schülerin, unsicher, manchmal mit den Zehenspitzen nach dem Boden tastend, auf Berührungen mit Wasserwesen gefasst, die sie nur als Abbilder auf den Schirmen der verhassten Hortschule kennen gelernt hatte. Alter Kram, dachte sie und tauchte todesmutig unter. Salziges Wasser, was für eine bizarre Laune der Natur. Grau in grau. Gedämpfte glucksende Geräusche. Ihr eigener Atem. Als sie auftauchte, sah sie Eytarri unschlüssig mit einem Stück Treibgut im Sand stochern, er hatte nicht einmal seinen Raumanzug ausgezogen. Sie hatte ihn überhaupt noch nie ohne den Anzug gesehen, wenn sie es recht bedachte.
»Eytarri, du Idiot«, schrie sie. »Du stinkst in dem alten Sack sicher wie ein Stück Scheiße. Komm endlich ins Wasser!«
Statt einer Antwort warf Eytarri den Stock in ihre Richtung. Kraftlos fiel das leichte, ausgedörrte Stück Holz in die schwache Brandung. Das Schiffsmondo schwebte über dem Sand wie ein Geist. Seine imaginären Haare bewegten sich im schwachen Wind. »Passage englouti«, rief sie, und das Mondo wendete ihr sein Gesicht zu. Sie wollte dem Schiff gerade den Befehl geben, dem Mondo die Züge Henans anzupassen, da unterbrach sie sich selbst. Besser nicht, dachte sie. Besser so.
»Was ist?«, fragte das Mondo mit der Stimme des Schiffs.
»Gibt es in diesem Ozean gefährliche Tiere?«
»Nicht so nah an der Küste. Ich warne dich, wenn ich etwas kommen sehe.«
Latil tauchte noch einmal unter. Erst als sie glaubte, von etwas berührt worden zu sein, ging sie wieder an Land, das salzige Wasser aus ihren kurzen Haaren schüttelnd. Sie lachte.
Das kam so selten vor. Sie rief die Fähre herbei und stieg nackt ein. Sie genoss die flüchtige Kälte auf ihrer Haut immer noch so sehr, dass sie den Anzug nicht anziehen wollte. Ihre Haare trockneten schon wieder, und sie missbilligte es, aber sie wusste, dass sie genau zur richtigen Zeit aus dem Wasser gestiegen war; nur ein wenig länger, und die Gewöhnung hätte ihr den Spaß verdorben.
Als Eytarri sich auf den Platz gegenüber gesetzt hatte, sagte sie: »Du solltest schwimmen. Das macht glücklich. Vielleicht würdest du sogar deinen dummen Klangstein vergessen.«
»Was weißt du schon«, antwortete Eytarri mit ungewohnter Klarheit. Auch seine Stimme hatte anders geklungen als sonst. Er hatte gesprochen wie jemand, der vieles von dem, was er weiß, mit niemandem teilen kann, weil er dann zwangsläufig Perlen vor die Säue werfen würde.
Sie hatte keine Zeit, sich groß zu wundern, denn als die Fähre über die Nachbarlagune glitt, um in einer sanften Kurve Kurs auf die Passage englouti zu nehmen, tauchten Inseln aus dem
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