Der Orksammler
seiner plumpen Gestalt nie zugetraut hätte, wetzte Meister Lemuel zum Eingang und schlug die Zeltplane zurück. Hippolit beeilte sich, ihm nach draußen zu folgen, als der gellende Laut ein zweites Mal erklang.
»Was ist das?«
Ringsum herrschte mit einem Mal hektische Geschäftigkeit: Zelte wurden aufgerissen, halbnackte Soldaten taumelten schlaftrunken ins Freie.
Unvermittelt erhielt Hippolit einen Stoß gegen die Schulter, der ihn taumeln ließ. Als er sich verdattert nach dem Verursacher umsah, erhaschte er gerade noch einen Blick auf einen Trupp schwer bewaffneter Orks, der im Laufschritt am Lazarettzelt vorbei und über den Pfad zwischen den Zelten davontrampelte. Erregte Rufe erklangen von überall her, in einem entfernten Bereich des Lagers schrillten die verwirrten Schreie aus dem Schlaf aufschreckender Matisrauden.
»A-Alarm?«, stammelte Meister Lemuel neben ihm, kaum zu verstehen in all dem Lärm. »Schon wieder?« Jetzt erst entsann er sich Hippolits Frage und wandte sich zu ihm um. Sein rundes Gesicht, soweit es im flackernden Schein der Fackeln zu erkennen war, hatte sämtliche Farbe verloren. »Die Männer der Patrouille tragen Hörner bei sich, um im Falle eines unerlaubten Eindringens ins Lager oder einer …«
»Die Nachtwache?«, unterbrach ihn Hippolit.
Der Mediziner nickte hektisch.
Ein weiterer Trupp Soldaten hetzte vorbei, ein halbes Dutzend vollbärtiger Männer mit grimmig verzerrten Gesichtern.
Hippolit packte einen von ihnen am Arm. Er wurde zwei, drei Schritte mitgerissen, bevor der Soldat ihn bemerkte und anhielt. »Lass mich los, du Wicht!«, brüllte er. »Ich muss weiter, das siehst du doch!«
»Warum? Was ist passiert?«
»Der Orksammler.« Mit einem energischen Ruck befreite sich der Mann aus Hippolits Griff. »Er hat sich ein neues Opfer geholt!«
8
Der Ursprung des Aufruhrs war rasch gefunden. Hippolit folgte einem der bewaffneten Trupps, die aus verschiedenen Bereichen der Zeltstadt in dieselbe Richtung liefen, und erreichte rasch die nördliche Lagerbegrenzung. Dort, mehrere Steinwürfe weit draußen in der Karstwüste, hatten sich im bräunlichen Widerschein der ewigen Flamme über hundert Soldaten versammelt. Mit einer gewissen Erleichterung erkannte Hippolit General Ortlov und mehrere seiner Hauptleute in der Menge. Man würde seiner wenig militärischen Erscheinung folglich die notwendige Autorität entgegenbringen, damit er den Vorfall untersuchen konnte.
Sofern es ihm gelang, zu Ortlov vorzudringen.
Das gestaltete sich schwieriger als gedacht: Die Soldaten standen dicht an dicht, drängten mit Vehemenz vorwärts, trachteten danach zu erfahren, was geschehen war. Im Handumdrehen steckte Hippolit in einer unnachgiebigen Mauer aus Leibern fest, gut zwei Dutzend Schritte vom General entfernt. Sosehr er auch schob, drückte und drängelte, der Widerstand war stahlhart selbst dort, wo die Krieger keine Panzerung, sondern nur ihre Nachtwäsche trugen. Und noch immer strömten neue Soldaten aus dem Lager nach. Erbost stellte Hippolit fest, dass er gegen seinen Willen mehr und mehr von seinem Ziel fortgetrieben wurde.
Er stellte sich auf die Zehenspitzen und brüllte etwas in Ortlovs Richtung. Doch seine Stimme ging im allgegenwärtigen Tumult unter.
Da packte ihn plötzlich eine kräftige Hand am Kragen und riss ihn ohne Mühe mindestens fünf Fuß hoch in die Luft.
»M.H., alter Sitzriese«, ertönte Jorges kehliges Organ. »Sag, wie ist das Wetter da unten?«
Hippolit entgegnete nichts, deutete nur wütend geradeaus. Sofort setzte sich Jorge in Bewegung, seinen Vorgesetzten wie einen Laib Brot unter den Arm geklemmt. Die gleichermaßen würdelose wie unkomfortable Art der Fortbewegung entsprach Hippolits Begriff eines respektgebietenden Auftritts zwar nur bedingt, dafür hatte sie einen unleugbaren Vorteil: Jorge, mindestens drei Köpfe größer und doppelt so breit wie die größten Soldaten, pflügte durch das Meer aus Körpern wie ein Schlachtschiff durch sturmgepeitschte See. Ein dezenter Tritt hier, ein kurzer, trockener Haken dort, und wenige Augenblicke später hatten sie den inneren Rand des Körperwalls, der sich um General Ortlov und seine Unterbefehlshaber gebildet hatte, erreicht.
»Stelle fest: Agent Jorge!«, rief der General, als der Troll dicht neben ihm aus der Menge auftauchte. Dann, als Jorge seine zappelnde Last zu Boden gleiten ließ: »Und Meister Hippolit -was für ein Glück!«
»Reden Sie, Mann«, forderte Hippolit und
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