Der Osmanische Staat 1300-1922
„Groß-Istanbul" ebenso wenig verhindern wie Razzien auf Nicht-Wohnberechtigte. Auf der anderen Seite entleerten sich Städte wie Amasya Ende des
16. Jahrhunderts. Nicht immer war Istanbul das Ziel der Binnenwanderung.
Lasen überquerten das Schwarze Meer und siedelten sich seiner Westseite an in
der Moldau an.
Bevölkerungszahlen
im 19./20. Jahrhundert
Der Osmanische Staat konnte sich als eine der ersten europäischen Regierungen auf eine - zunächst allerdings sehr unvollkommene - Bevölkerungsstatistik stützen. Nach dem endgültigen Niedergang der Konskriptionstätigkeit (tahrir) im frühen 17. Jahrhundert wurde unter Mahmüd II. in
den 1830er Jahren wieder eine Totalerfassung der osmanischen Bevölkerung
angestrebt. Dabei handelt es sich um Zusammenfassungen der Bevölkerungsregister bzw. ihrer Fortschreibungen, nicht um Volkszählungen im
technischen Sinn. Dieselbe Quelle enthält auch detaillierte Angaben zum
Erziehungswesen, zur medizinischen Versorgung und zur Verbrechensstatistik. Die ersten modernen Versuche, die Gesamtbevölkerung Rumeliens und Anatoliens zu erfassen, waren durch das Bedürfnis der Staats
bedingt, neue Steuerquellen zu erschließen und die Aushebung von Soldaten
zu erleichtern. 1831 wurden Männer in den meisten rumelischen und anatolischen Provinzen erfaßt. Die Summe von 3753642 Personen, unter ihnen
1178171 Christen, muß als ein Minimum betrachtet werden. Auch die ersten
von der osmanischen Statistik (1885/86) veröffentlichten Bevölkerungszahlen
sind von ungleicher Brauchbarkeit. Nicht alle Gebiete wurden berücksichtigt.
Es fehlen die arabischen Provinzen in Afrika und auf der Halbinsel sowie
große Gruppen von Nomaden (Kurden). Frauen, Kinder und junge Männer
werden gar nicht gezählt oder sind unterrepräsentiert. Altersangaben sind nur
annähernd richtig. Zwischen den einzelnen muslimischen Gruppen wird nicht
unterschieden. Die Christen erscheinen als „Gregorianer", „Katholiken" und
„Protestanten". Lediglich die amtliche französische Übersetzung des Zensus
von 1330 H./1914 kennt die Bezeichnungen „Griechen" und „Armenier". In
manchen Provinzen muß ein Korrekturfaktor von 10-30% wegen der ungenügenden Erfassung der genannten Geschlechts- und Altersgruppen hinzugerechnet werden. Die Anwendung dieses Verfahrens führt zur Annäherung
von offiziösen türkischen Aussagen und modernen Behauptungen über die
Größe der armenischen Bevölkerungsgruppe. Die Bevölkerung der Hauptstadt wurde zunehmend genauer registriert. 1878 wurden 546437 Personen
gezählt, 1885 schon 873565, von denen 129243 Untertanen anderer Staaten
waren.
Istanbul
Die Sechs
Provinzen"
In den Quellen und in der politischen Polemik werden ganz unterschiedliche
Zahlen für die im Berliner Vertrag von 1878 definierten „armenischen" Provinzen
genannt. Die Bevölkerung dieser „Sechs Viläyets" war mehrheitlich muslimisch
(kurdisch, türkisch), doch stellten die Armenier in jeder einzelnen Provinz einen
beachtlichen Faktor dar.
Muhäcirs
Die massenhafte Einwanderung von Muslimen die aus ihren Heimatländern
vertrieben wurden oder sich „freiwillig" auf den Weg machten (muhdcir), beeinflußte die demographische Bilanz der Türkei bis in die Gegenwart. Die erste
große Bevölkerungsbewegung wurde durch die Annexion der Krim-Halbinsel
durch Rußland ausgelöst. Über 300000 Menschen sollen damals in die osma nischen Provinzen eingewandert sein, nach den Kriegen von 1812 und 1828 folgte
weitere 425 000. Zwischen 1859 und 1864 verließen große Teile der nordkaukasischen Bevölkerung ihre angestammten Gebiete (100000 Nogaier, 400-
500 000 Tscherkessen). Zahlreiche Flüchtlingskonvois wurden in die bei der
Türkei verbliebenen Balkanprovinzen (Bulgarien, Mazedonien, Kosovo) gelenkt, bevor sie nach dem Teilverlust dieser Gebiete 1878 gezwungen wurden,
nach Anatolien und Syrien weiterzuziehen. Die Bevölkerungsstatistik von 1895/6
gibt auch eine Übersicht über die seit dem Ausbruch des Russisch-türkischen
Kriegs (1877) eingewanderten Flüchtlinge. Sie erfaßt 240450 Haushalte, also
vermutlich mehr als eine Million Menschen.
Juden
Nach 1453 veranlaßte die osmanische Macht die Umsiedlung von Juden nach
Istanbul, was zur Auflösung Dutzender jüdischer Gemeinden, u. a. der von
Saloniki, führte. Die Öffnung Istanbuls für von der iberischen Halbinsel vertriebene Juden nach 1492 hatte erhebliche Folgen für die Zusammensetzung der
jüdischen Gemeinden
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