Der Osmanische Staat 1300-1922
ab einer bestimmten Steuerschuld aktiv und passiv gewählt werden. Für die
sancak- und viläyet-Räte trafen Ausschüsse unter Vorsitz des Landrats (käimmakäm) oder Gouverneurs (väli) die Auswahl. Die Bevorzugung von Bewerbern,
die der türkischen Schriftsprache mächtig waren, nahm die Festlegung des Türkischen als Staatssprache in der Verfassung von 1876 vorweg.
Abdülaziz
Unter Sultan Abdülaziz (1861-1876) wurden die ersten Briefmarken gedruckt
(1863) und zwei wichtige Bahnlinien in der europäischen und anatolischen
Provinz (Izmir-Aydin) eröffnet. Eine Reformmaßnahme von symbolischer und
praktischer Bedeutung war die Übernahme des europäischen Maß- und Gewichtssystems (1869). Sichtbarster Ausdruck der neuen Rolle des türkischen
Souveräns war der erste (und letzte) Auslandsbesuch eines Osmanen-Herrschers anläßlich der Pariser Weltausstellung 1867. Diese Europareise fand während des kretischen Aufstands statt und hatte einen entsprechenden politischen
Hintergrund. Im selben Jahr hatte sich zum ersten Mal ein oppositionelles Exil in
Europa gebildet. Es handelte sich um eine zeitweise von dem ägyptischen ThronPrätendenten Mustafä Fäzil Pascha gestützte Gruppe von Gegnern Äli Paschas.
Die herausragenden Köpfe waren Literaten-Bürokraten wie Nämik Kemäl, Zivä
und Ali Suävi. Das 1868 in London gegründete Blatt Hürriyet bildete die
wichtigste Plattform eines osmanischen Patriotismus, der freilich noch weit von
konstitutionellen Ideen entfernt war und dem die den Nichtmuslimen gewährten
Aufstiegsmöglichkeiten angesichts des Bildungsrückstands der islamischen
Mehrheit entschieden zu weit gingen.
1868 wurde der Meclis-i Välä-t Ahkäm-: Adliye bzw. seine Nachfolgeeinrichtung (Meclis-i Äli-i Tanzimät) als legislatives Organ in einen Staatsrat
und einen Justizrat aufgeteilt. Der Staatsrat war von seinen Vätern Fu`äd und
Ali durchaus nicht als Vorstufe eines Parlaments gedacht, doch stellte er (in Ahmed
Midhats Worten) „eine Schule zur Herausbildung von Staatsmännern" dar. Im
Justizrat waren fünf von 13 Mitgliedern Vertreter christlicher Kirchen. Fu`äd und Äli Pascha starben in kurzem Abstand voneinander (1869-1871). Beide verkörperten als Schüler Resid Paschas die Tanzimät-Zeit, deren Reformprogramm
nicht nur der Modernisierung im Inneren diente, sondern auch die Einflußmöglichkeiten der Großmächte verringern sollte.
Ein Katastrophenjahrzehnt
Die siebziger Jahre des 19. Jahrhunderts sind das Katastrophen-Jahrzehnt der
jüngeren osmanischen Geschichte. Der Zusammenbruch Frankreichs im Krieg
gegen Preußen beraubte den Staat des einzigen berechenbaren europäischen
Verbündeten. Das Jahr 1873 brachte eine Mißernte. Auf einen ungewöhnlich
langen und strengen Winter folgten Hungersnöte in weiten Teilen Anatoliens.
1875 mußte der Großwesir Mahmüd Nedim Pascha erklären, daß osmanische
Staatspapiere über die folgenden fünf Jahre nur noch mit der Hälfte der Zinsen und
Zinseszinsen bedient würden. Bis zu diesem Zeitpunkt waren die osmanischen
Obligationen seit 1854 regelmäßig eingelöst wurden. Sechs Jahre später nahm die
europäisch kontrollierte Schuldenverwaltung (Dette Publique) ihre Tätigkeit auf
(sog. Muharrem-Dekret vom 28. Muharrem 1299/17. Dezember 1881). Die Dette
Publique sollte sich in den folgenden Jahrzehnten als durchaus leistungsfähige
Institution erweisen. Sie war z. B. in der Lage, Salz, das bis dahin teilweise
importiert werden mußte, zum Exportartikel zu machen.
1876
Das Drei-Sultane-Jahr 1876 ist das Jahr der bulgarischen Erhebung, von Aufständen in Serbien (Sieg über das vom russischen General M. G. Cernjaev geführte
serbische Heer im September 1876) und Montenegro. Nach der Absetzung und
dem mutmaßlichen Selbstmord des geistig erkrankten Abdülaziz blieb Muräd V.
nur wenige Wochen auf den Thron. Nach Konsultierung von Ärzten wurde er für
geistig ungeeignet erklärt und am 31.8. 1876 Abdülhamid II. eingesetzt. Vor der
russischen Kriegsdrohung im Zusammenhang mit der Serbien-Krise stimmte die
Pforte einer Balkankonferenz zu. Am Tage ihres Zusammentretens (Tersane-
Konferenz vom 23.12 1876) wurde das erste, von Midhat Pascha (1822-1884) in
engem Kontakt mit der britischen Gesandtschaft entworfene osmanische
„Grundgesetz" (Känün-i esäsi) verkündet. Midhat Pascha war zum zweiten Mal
Großwesir. Er hatte als überaus tatkräftiger Provinzgouverneur in balkanischen
und arabischen
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