Der Pakt der Wächter: Roman
erkenne ich ein kleines tätowiertes Kreuz. Er sagt seinen Namen auf Arabisch, was sich wie ein einstürzender Turm willkürlicher Konsonanten anhört, und obgleich Stuart mir den Namen im Auto mehrmals vorgesagt hat, kann ich ihn mir nicht merken. Ich werde ihn der Einfachheit halber den Mönch nennen.
Er bittet uns in das Wüstenkloster und führt uns durch die Schlafsäle, die Refektorien, den Studiensaal, die Kirche und den gepflegten Garten des Atriums. Zu meiner Überraschung spricht er perfekt Englisch. Er hat seine Ausbildung in Cambridge absolviert, wo er später auch eine ganze Weile unterrichtet hat.
»Auch wenn wir sehr verschieden sind«, sagt der Mönch mit einer fernen Sanftheit in der Stimme, »haben Stuart und ich doch eine gemeinsame Geschichte. Ich war sein Doktorvater in Ägyptologie an der Universität in Cambridge.«
Verdutzt betrachte ich das von Sonne und Sand gegerbte Gesicht. Ich habe Schwierigkeiten, mir den Mönch als Professor in Cambridge vorzustellen. Andererseits haben auch viele Leute Probleme, sich mich als Dozenten an der Universität in Oslo vorzustellen.
Er erzählt, dass das koptische Christentum wenige Jahre nach der Kreuzigung Jesu vom Apostel Markus in Ägypten etabliert wurde. Die ersten organisierten Gläubigen waren Kopten. Die Mönche von Markus’ Ruh sind davon überzeugt, dass Markus persönlich am Bau der Klosterkirche beteiligt war. Das Oberhaupt der koptischen Kirche wird nach wie vor als Papst von Alexandria und Patriarch vom Heiligen Stuhl des St. Markus bezeichnet, und die frühe koptische Kirche benutzte das Anch-Symbol, ansate , als Kreuz.
Als die ägyptischen Christen im 3. Jahrhundert aus den Städten vertrieben wurden, flüchteten sie in die Wüste, wo sie ihre Klöster bauten. In der ägyptischen Gebirgswüste, in verfallenen Bauwerken und schattigen Höhlen errichteten sie mehrere hundert Klöster. Von dort breitete sich die Klosterbewegung über die ganze christliche Welt aus.
Der Mönch erklärt mir, dass die allerheiligste Reliquie der Kirche, die auf einem roten Samtkissen in einem goldenen Schrein liegt, ein Dorn aus Jesu Dornenkrone ist. Und in einem ziselierten Silberschrein werden acht Seiten aufbewahrt, die angeblich aus dem Originalmanuskript des Markusevangeliums und einem koptischen Fragment des Johannesevangeliums stammen.
5
»Gott ist tot.«
Wir sitzen im Schatten des Kreuzganges um den Garten auf einer Holzbank und trinken erfrischend kaltes Wasser aus Plastikflaschen.
Der Mönch tritt mit der Sandale auf den Boden. Ein schmerzlicher Zug zieht sich über sein Gesicht.
»Tot?«, frage ich.
»Osiris«, sagt er und streckt einen Finger in die Luft. »Odin.« Er streckt einen zweiten Finger aus. »Zeus. Ptah. Bacchus. Thor. Pan. Poseidon. Cupido. Ashtoreth.« Seine Finger reichen nicht weiter, aber er fährt trotzdem fort. »Bellona. Isis. Jupiter. Anubis. Balder. Nebo. Loke. Amon-Ra. Aphrodite. Baal. Ahijah. Frøya. Hades. Mulu-hursang. Njord. Llaw Gyffes. Mu-ul-lil. Frigg. Venus. Sutekh, der oberste Herrscher des Niltales. Ich könnte mindestens zehn Minuten weitermachen mit meiner Aufzählung. Was haben all diese Götter gemeinsam? Sie haben die Geschicke von Millionen gottesfürchtiger Menschen gelenkt. Ihre Namen haben Männer vor Angst erzittern und Frauen ihre Köpfe in Andacht neigen lassen. Volksmassen haben sie angebetet. Wir haben Tempel zu ihren Ehren erbaut. Knechte haben in Sklavenarbeit die Bauwerke errichtet, in denen wir sie preisen konnten. In ihrem Namen sind Zivilisationen entstanden und wieder zugrunde gegangen, wurden Kriege geführt. Generationen von Priestern und Mönchen haben ihnen ihr Leben geweiht und alles darangesetzt, sie zu verstehen, sie zu deuten, ihnen zu opfern, sie anzubeten.«
Ein Windstoß fegt einen Reisigball über den Steinpfad in den Garten.
»Und jetzt?«, fragt er. Wir glauben nicht länger an sie. Sie sind allesamt tot. Auch wenn nicht alle vergessen sind. Aber niemand glaubt mehr an sie. Niemand betet sie mehr an. Sie verbringen ihr göttliches Dasein in der Monotonie des Vergessens. Als Götter sind sie tot.«
Der Windhauch, der durch die Klostergänge streicht, klingt wie ein Seufzen.
»Ich glaube«, fährt der Mönch fort, »dass auch Gott tot ist. Der Gott, den wir als Jahve kannten. Jehova. Elohim. Der Herr. Er hatte viele Namen. So zahlreich wie die Zeichen für seinen Tod. Die Prophezeiungen der Bibel haben sich erfüllt. Gott ist tot. Nietzsche hatte recht.«
»Woher
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