Der Pakt
sieben Mann tief aufeinander gestapelt wie Rinderhälften in einer riesigen Gefrierkammer. »Mein Gott«, sagte er, als ihm aufging, dass der Leichenwall achtzig oder neunzig Meter lang war. »Mein Gott. Das sind deutsche Soldaten?«
Himmler nickte.
»Wie sind sie umgekommen? Sind sie erschossen worden?«
»Ein paar hatten vielleicht das Glück, erschossen zu werden«, sagte Himmler. »Die meisten starben an Hunger, Kälte, Krankheit, Erschöpfung und mangelnder Hygiene. Sie sollten wirklich den Bericht lesen, den ein Gefangener gibt, ein junger Leutnant der sechsundsiebzigsten Infanteriedivision. Diese Aufzeichnungen wurden aus dem Lager geschmuggelt, in der irrigen Hoffnung, die Luftwaffe könnte eine Art Luftangriff fliegen und dem Elend dieser Männer ein Ende machen. Der Bericht liefert ein recht gutes Bild vom Leben in Beketowka. Ja, es handelt sich um eine durchaus bemerkenswerte Reportage.«
Ribbentrops schwachsichtige blaue Augen huschten schnell über das nächste Foto hinweg, die Nahaufnahme eines Stapels gefrorener Leichen. »Vielleicht später«, sagte er und nahm die Brille ab.
»Nein, Ribbentrop, lesen Sie’s jetzt gleich«, insistierte Himmler. »Bitte. Der Mann, der das geschrieben hat, ist oder war erst zweiundzwanzig, so alt wie Ihr Sohn. Wir sind es all jenen, die nicht mehr heimkehren, schuldig, zu begreifen, was sie erlitten und welches Opfer sie gebracht haben. Solche Dinge zu lesen, das wird uns die nötige Härte verleihen, um zu tun, was zu tun ist. Für menschliche Schwäche ist da kein Platz, meinen Sie nicht?«
Mit starrer Miene setzte Ribbentrop die Brille wieder auf. Er ließ sich gar nicht gern in die Enge treiben, sah aber keine 40
andere Möglichkeit, als, Himmlers Aufforderung nachzukom-men und das Dokument zu lesen.
»Oder noch besser«, sagte der Reichsführer, »Sie lesen mir vor, was der junge Zahler geschrieben hat.«
»Laut?«
»Ja, laut. Um ehrlich zu sein, ich habe es selbst erst einmal gelesen, weil ich es nicht über mich gebracht habe, es noch einmal zu tun. Also, lesen Sie es mir vor, Ribbentrop, und dann besprechen wir, was zu tun ist.«
Der Außenminister räusperte sich nervös und dachte an das letzte Mal, dass er ein Dokument vorgelesen hatte. Er erinnerte sich genau an das Datum: 22. Juni 1941 – der Tag, an dem er der Presse verkündet hatte, dass Deutschland in die Sowjetunion einmarschiert war. Die Ironie entging ihm nicht.
Als er mit dem Vorlesen fertig war, nahm er die Brille ab und schluckte. Heinrich Zahlers Darstellung des Lebens und Sterbens in Beketowka in Kombination mit der Bewegung des Zugs und dem Geruch von Himmlers Zigarre – ihm war ein bisschen flau. Er erhob sich schwankend, entschuldigte sich für einen Moment und ging in die Ziehharmonikaverbindung zwischen den Wagen, um ein wenig Luft zu schnappen.
Als der Minister in den Salonwagen des Reichsführers zurückkehrte, schien Himmler seine Gedanken zu lesen.
»Vielleicht mussten Sie ja an Ihren Sohn denken. Ein tapferer junger Mann. Wie oft verwundet?«
»Dreimal.«
»Das spricht sehr für Sie, Ribbentrop. Beten wir, dass Rudolph nie in russische Gefangenschaft gerät. Zumal er ja bei der SS ist.
An anderer Stelle in der Beketowka-Akte geht es um die besonders mörderische Behandlung, die die Russen SS-Gefangenen angedeihen lassen. Die kommen auf die Wrangel-Insel. Soll ich Ihnen zeigen, wo das ist?«
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Himmler nahm seinen Brockhausatlas und schlug die betreffende Karte auf. »Hier«, sagte er und tippte mit einem wohl manikürten Fingernagel auf ein winziges Krümelchen in einem Meer von Blassblau. »In der ostsibirischen See. Da, sehen Sie? Dreieinhalbtausend Kilometer östlich von Moskau.«
Himmler schüttelte den Kopf. »Überwältigend, was? Die schiere Größe dieses Landes.«
Er klappte den Atlas zu. »Nein, diese Kameraden werden wir, fürchte ich, nie wieder sehen.«
»Kennt der Führer diese Akte?«, fragte Ribbentrop.
»Guter Gott, nein«, sagte Himmler. »Und er wird sie auch nie zu Gesicht bekommen. Wenn er von dieser Akte und den Bedingungen in den russischen Gefangenenlagern wüsste, meinen Sie, dann würde er je einen Frieden mit der Sowjetunion in Erwägung ziehen?«
Ribbentrop schüttelte den Kopf. »Nein«, sagte er. »Wohl kaum.«
»Aber ich dachte mir, wenn die Amerikaner das sähen«, sagte Himmler, »dann …«
»Dann könnte das helfen, einen Keil zwischen sie und die Russen zu treiben.«
»Exakt. Und vielleicht könnte es auch helfen, den
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