Der Pakt
Anschlägen.
Bereits 1921 hatte bei einer Saalschlacht jemand – Himmler hatte nie herausbekommen, wer – auf Hitler geschossen. Seither hatte es noch mindestens dreißig Attentatsversuche gegeben, die von der Gestapo erfundenen Verschwörungen nicht mitgerechnet. Allein in einem Zeitraum von zwölf Monaten zwischen den Jahren 1933 und 1934 waren zehn Anschlagsversuche gezählt worden. Wohl jeder hätte gesagt, dass der Führer erstaunliches Glück hatte. Hitler aber schaffte es, sobald sich der Schock und der Zorn gelegt hatten, sein Entrinnen als Wunder zu betrachten. Für ihn war es ein Zeichen göttlicher Intervention. Nach gut dreißig missglückten Attentaten war Himmler schon fast geneigt, ihm Recht zu geben.
Attentatsversuche, die er überlebte, waren das Einzige, was Hitler dazu brachte, mit echter Überzeugung und Inbrunst von Gott zu sprechen. Sie wirkten sich auf seine Rhetorik und auf sein Selbstbild aus. Je mehr Attentatsversuche Hitler überlebte, desto fester war er davon überzeugt, dass ihn Gott ausersehen hatte, Deutschland groß zu machen. Und je überzeugter er selbst davon war, desto leichter konnte er andere davon überzeugen.
Inmitten eines schwierigen Krieges war die hysterische Führerverehrung früher Tage natürlich abgeklungen. Himmler erinnerte sich noch gut an das ebenso überwältigende wie unheimliche Gefühl, als Hitler sich beim Nürnberger Reichparteitag 1934 im offenen Mercedes durch die Stadt hatte fahren lassen. Die Gesichter dieser vielen tausend Frauen, die Hitlers Namen schrien und die Hände nach ihm ausstreckten, um ihn zu berühren, als wäre er der wiederauferstandene Heiland! Himmler hatte Häuser gesehen, in denen es 509
Führeraltäre gab. Er hatte Schulmädchen getroffen, die sich Hakenkreuze auf die Fingernägel malten. Es gab sogar deutsche Dörfer und Kleinstädte, in denen die Kranken angehalten wurden, ein Führerbild zu berühren, um Heilung zu finden. Was alles Hitler nur in dem Gefühl bestärkte, von Gott auserwählt zu sein. Doch um ihn wirklich euphorisch zu stimmen, bedurfte es eines Attentatsversuchs. Gewöhnlich setzte die volle Wirkung nach ein paar Tagen ein, wenn die Täter ergriffen und aufs Grausamste bestraft worden waren. Diesmal jedoch kehrte Hitler sofort mit strahlendem Gesicht und blitzenden Augen in die Villa auf dem russischen Botschaftsgelände zurück und versicherte Himmler und dem Rest der deutschen Delegation, es bestehe kein Anlass zur Beunruhigung, was den Fortgang der Gespräche betreffe.
»Die Vorsehung verhindert, dass mir irgendetwas geschieht«, erklärte er Himmler und Ribbentrop, »ehe meine Mission erfüllt ist.«
Der Führer zog sich in sein Schlafzimmer zurück, um »ein wenig zu ruhen und diese Positionspapiere der Alliierten zu lesen«.
Hitlers demonstrativer Optimismus beruhigte Himmler so sehr, dass er für sich und Ribbentrop eine Flasche Champagner orderte.
»Erstaunlich, was?«, sagte Himmler und trank dem Reichsaußenminister zu. »Wer außer dem Führer könnte so etwas fertig bringen? Zwei Stunden dazusitzen, ohne einen Tropfen von diesem Wasser zu trinken. Und dann, nachdem er gerade einem Giftanschlag entronnen ist, knapp vor einer Kugel bewahrt zu werden, und das ausgerechnet von einem Juden.«
Himmler lachte laut.
»Sind Sie sicher?«, fragte Ribbentrop. »Der Dolmetscher ist Jude?«
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»Lassen Sie sich’s gesagt sein, Ribbentrop. Von Juden verstehe ich eine ganze Menge, und ich kann Ihnen versichern, Mayer ist unzweifelhaft ein jüdischer Name. Und außerdem ist da noch diese eindeutige Physiognomie. Das dunkle Haar, die hohen Wangenknochen. Dieser Mann ist Jude. Ich habe mich nur noch nicht getraut, es dem Führer zu sagen.«
»Vielleicht weiß er’s ja bereits.«
»Der Attentäter selbst ist wohl allerdings Pole. Oder jedenfalls polnischer Abstammung.«
Ribbentrop zuckte die Achseln. »Vielleicht ist er ja auch Jude.«
»Ja, mag sein. John Pawlikowski.« Himmler dachte kurz nach.
»Ist Molotow Jude?«
»Nein«, sagte Ribbentrop, »nur mit einer Jüdin verheiratet.«
Himmler lachte. »Wetten, dass das ganz schön peinlich ist?
Stalin ist ja offen antisemitisch. Das hatte ich gar nicht gewusst.
Stellen Sie sich vor, ich habe ihn zum Führer sagen hören, die Juden seien ›Spekulanten, Profiteure und Parasiten‹.«
»Ja, ich fand, er und der Führer verstehen sich recht gut. Sie sehen vieles ganz ähnlich. Zum Beispiel hasst auch Stalin, genau wie der Führer, Leute, die zwischen
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