Der Palast
Der Gedanke, dass sie versehentlich das Verbrechen begünstigt hatte, ließ Chizuru zum ersten Mal, seitdem Sano sie kannte, die Fassung verlieren. Sie war völlig durcheinander und sah todunglücklich aus.
»Vielleicht hat sie gar nicht gelogen und ist unschuldig«, entgegnete Sano. »Aber ich muss wissen, wohin sie sonst noch gegangen sein könnte, außer zum Haus ihrer Mutter.«
Chizuru nickte. »Ich werde alles tun, um meinen Fehler wieder gutzumachen«, sagte sie. »Ich kann Euch die Berichte zeigen. Wenn Ihr mir bitte folgen würdet.«
Sie führte Sano in eine kleine Kammer in der Nähe des Waschhofs und öffnete eine Mappe, in der Akten über jede Person lagen, die im Inneren Schloss wohnte. »Seltsam«, murmelte sie, als ihr Finger über die Zeilen unter Marikos Namen glitt. »Der metsuke holt normalerweise über sämtliche Bediensteten des Palasts Informationen ein und notiert Personen, die für sie bürgen. Aber die einzige Information über Mariko ist der Name ihrer Mutter und deren Adresse: Yuka, Straße der Schirmmacher, Nihonbashi.«
Sano sah seinen Verdacht erhärtet. Wie hatte Mariko die Anstellung hier ohne Referenzen erhalten? Wie konnte der Drachenkönig eine Spionin ins Herz des Tokugawa-Regimes einschleusen?
Ein beunruhigender Gedanke, der schon in Sanos Hinterkopf geschlummert hatte, gewann an Bedeutung. War der Drachenkönig ein Angehöriger des Tokugawa-Regimes, der Gesetze umgehen konnte, während er gegen den Shōgun intrigierte?
Die ihm eigene Vorsicht warnte Sano, voreilige Schlüsse zu ziehen und den Verdacht zu äußern, der am Hof für größte Unruhe gesorgt hätte. Zuerst musste er herausfinden, ob Mariko tatsächlich die Komplizin der Entführer gewesen war.
»Wir werden die anderen Frauen fragen, ob sie wissen, wohin Mariko in jener Nacht gegangen ist«, erklärte Sano.
Doch als er und Chizuru die anderen Dienstmädchen, Konkubinen und Hofdamen befragten, erfuhren sie, dass Mariko niemandem etwas erzählt hatte. Jeder, der von ihrem freien Abend wusste, hatte ihr die Geschichte mit der kranken Mutter geglaubt.
»Es tut mir Leid, dass ich Euch nicht helfen konnte«, sagte Madam Chizuru, als sie Sano aus dem Palast geleitete.
»Aber Ihr habt mir geholfen«, erwiderte Sano. »Ihr habt mir gesagt, wohin ich als Nächstes gehen muss. Marikos Mutter könnte Informationen über ihre Tochter haben, die mich vielleicht zu den Entführern führen.«
Die Tür zum Gefängnisturm öffnete sich knarrend, und zwei Wachposten traten ein. Keisho-in und Fürstin Yanagisawa schrien erschrocken auf; Midori kreischte vor Entsetzen. Reiko hatte das untrügliche Gefühl, dass die Männer gekommen waren, um sie wieder abzuholen, nachdem sie erst vor einer guten Stunde aus dem Palast des Drachenkönigs zurückgebracht worden war. Die vier Frauen kauerten in einer Ecke und machten sich auf neuerliche Schrecken gefasst.
Doch die Männer drängten sie nur in eine Ecke und bewachten sie. Dann betraten sechs weitere Männer das Gefängnis. Sie wischten den Boden, trugen die übervollen Abfallkübel hinaus und brachten sie geleert und gereinigt zurück. Fassungslos beobachteten die Frauen das Geschehen. Die Männer brachten Bettzeug, legten Tatami-Matten auf den harten Boden, brachten heißes Wasser in Schüsseln und Tücher zum Waschen. Sie stellten den Frauen Schalen mit Trockenfisch, eingelegtem Gemüse, Früchten und Eiern sowie Töpfe mit Reis und Tee hin, verließen den Raum und verschlossen hinter sich die Tür.
Fürstin Keisho-in fiel sofort über das Essen her und verschlang es gierig. »Endlich zeigen diese Kerle mir den gebotenen Respekt«, sagte sie. »Das wurde aber auch Zeit!«
»Ich glaube, es gibt noch einen anderen Grund für ihre Großzügigkeit«, sagte Midori und lächelte Reiko an. »Ihr müsst einen guten Eindruck auf ihren Anführer gemacht haben.«
Fürstin Yanagisawa beobachtete Reiko nachdenklich. Diese wandte sich von ihren Freundinnen ab, beugte sich über die Schüssel und spritzte sich Wasser ins Gesicht. Sie hätte viel darum gegeben, den furchtbaren Eindruck zu vertreiben, den der Drachenkönig bei ihr hinterlassen hatte. Die anderen Frauen wussten nicht, was sich zwischen Reiko und dem Drachenkönig abgespielt hatte, denn Reiko hatte kein Wort darüber gesagt. Sie wollte Midori nicht in Angst versetzen und Keisho-in nicht zu einem erneuten Wutausbruch verleiten. Reiko hatte lediglich gesagt, dass der Mann, der sich Drachenkönig nannte, ihr nichts angetan hatte.
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