Der Palast
Sie hatte den anderen Frauen versichert, dass keine unmittelbare Gefahr bestehe, obwohl ihr Treffen mit dem Drachenkönig ihrer aller Situation in Wahrheit verschlimmert hatte.
Reiko ließ den Blick durch den gesäuberten Raum schweifen, betrachtete das Bettzeug und das Essen, das die Wachen gebracht hatten. Der Drachenkönig versuchte offenbar, sie durch Annehmlichkeiten für sich zu gewinnen. Reiko dachte an die Gegenleistung, die dieser geheimnisvolle Mann erwartete. Sie schauderte und drückte sich ein Tuch aufs Gesicht. Obwohl es Reiko mit Entsetzen erfüllte, die Aufmerksamkeit und Bewunderung dieses Mannes auf sich gezogen zu haben, wusste sie zugleich, dass das Verlangen des Drachenkönigs ihn verletzbar machte und dass sie diese Schwäche vielleicht zu ihrem Vorteil nutzen konnte. Sie nahm das Tuch vom Gesicht und dachte fieberhaft nach, bis ihr Plan allmählich Gestalt annahm.
Eine sanfte Berührung am Arm riss Reiko aus ihren Gedanken. Sie drehte sich um und sah Fürstin Yanagisawa, die neben ihr kniete.
»Zwischen Euch und dem Drachenkönig hat sich mehr abgespielt … nicht wahr?«, fragte Fürstin Yanagisawa.
Reiko zögerte; sie wollte sich dieser Frau nicht anvertrauen, weil sie fürchtete, die Beziehung zu ihr könne dadurch noch enger werden. Andererseits schuldete sie der Fürstin Dank, weil sie ihr bei dem Fluchtversuch geholfen und dabei ihr eigenes Leben gefährdet hatte. Außerdem hatte Reiko das Bedürfnis, mit jemandem über ihre Ängste und Pläne zu sprechen.
Sie spähte zu den anderen Frauen hinüber, nickte Fürstin Yanagisawa verstohlen zu und flüsterte: »Ich erzähle es Euch später, wenn die anderen schlafen.«
20.
E
in paar Stunden, nachdem Sano dem Kammerherrn Yanagisawa über mögliche Verdächtige berichtet hatte, die einen Groll gegen Hoshina hegen könnten, ritt der Kammerherr mit dem Gefolge seiner Leibwächter durch die Hauptstraße des Wohnviertels der daimyo. Die Menge der berittenen und umherziehenden Samurai bildete eine Gasse, um ihm Platz zu machen. Der Kammerherr blieb mit seinen Gefolgsleuten vor einem Anwesen stehen, dessen Tor mit dem zweistöckigen Dach das runde Wappen des Kii-Klans zierte. Kaum waren sie aus den Sätteln gestiegen, als die Wachen das Tor öffneten.
»Guten Tag, ehrenwerter Kammerherr«, riefen die Wachen im Chor und verneigten sich.
Yanagisawas hoher Rang gab ihm das Recht, fast jedes Haus zu betreten, und er vertraute besonders hier auf einen herzlichen Empfang. Er betrat den Hof, auf dem Soldaten Wache standen. Ein Hauptmann begrüßte den Kammerherrn.
»Fürst Kii ist auf dem Kampfübungsplatz, Herr«, ließ der Hauptmann der Wache den Kammerherrn wissen. »Darf ich Euch zu ihm führen?«
»Nicht nötig«, erwiderte Yanagisawa. »Ich kenne den Weg.«
Als der Kammerherr mit seinen Leibwächtern an den Kasernen und Wohngebäuden vorbei zum Übungsplatz ging, verbarg er seine Gefühle, worauf er sich meisterhaft verstand. Seine Miene war gelassen, seine Körperhaltung würdevoll, obwohl er Höllenqualen der Verzweiflung litt. Bei seinem bevorstehenden Gespräch mit Fürst Kii, daimyo der Provinz Sendai und Haupt des Klans, der in Sanos Augen zum Kreis der Verdächtigen im Entführungsfall gehörte, erwartete der Kammerherr keine Schwierigkeiten. Yanagisawas ganzer Kummer galt Hoshina.
Es gelang dem Kammerherrn nicht, die schreckliche Erinnerung an Hoshina, wie dieser um sein Leben bettelte, zu verbannen. Er konnte seine Schuld und Schande nicht leugnen, als er sich geweigert hatte, Hoshina zu beschützen, noch konnte er die Drohung vergessen, die sein Leben in einen Albtraum verwandelt hatte. Er musste Hoshina retten – und das nicht nur, weil er diesen Mann liebte: Wenn er Hoshina und dessen Partnerschaft verlor, würde ihn das politisch schwächen, und er wäre seinen Feinden, darunter Fürst Matsudaira, schutzlos ausgeliefert. Und falls er die Gunst des Shōgun einbüßte, würden sie ihn angreifen, ohne zu zögern. Sein Verlangen, Hoshina zu retten, war also mit der dringenden Notwendigkeit verbunden, Fürstin Keisho-in zu befreien und seine Macht aufrechtzuerhalten. Yanagisawa hoffte, dass ihn ein Gespräch mit Fürst Kii wenigstens einem dieser Ziele näher bringen würde.
Fürst Kiis Kampfübungsplatz war ein großes, rechteckiges Feld, das von Stallungen umsäumt war und auf dem sich nun unzählige Samurai im Kampf übten. Zwei Heere, die sich durch farbige Fahnen unterschieden, die sie an Stangen auf dem Rücken trugen,
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