Der Palast
Gespräch schien der erste Lichtblick in den Ermittlungen zu sein.
»Ihr habt Mariko also nicht gesehen, bevor sie die Reise angetreten hat?«, fragte Sano, um Gewissheit zu haben.
»Reise? Welche Reise?« Yuka schüttelte den Kopf. »Ich wusste nicht, dass Mariko eine Reise machen wollte. Ich dachte, sie arbeitet im Palast zu Edo. Ich habe sie seit sechs Monaten nicht mehr gesehen.« Ein Schatten huschte über Yukas gutmütige Miene: Sie begriff, dass ein Besuch des obersten Ermittlers des Shōgun nichts Gutes ahnen ließ. »Hat Mariko etwas Unrechtes getan?«
Sano war entsetzt. Yuka wusste offenbar noch nicht, dass ihre Tochter tot war. Vielleicht waren die Hofbeamten, die den Familien der ermordeten Bediensteten Fürstin Keisho-ins die traurige Botschaft überbringen mussten, noch nicht bei Yuka gewesen. Und vermutlich konnte sie nicht lesen und hatte daher die neuesten Nachrichtenblätter, in denen von dem Massaker berichtet wurde, gar nicht beachtet. Jetzt fiel Sano die Aufgabe zu, Yuka die schlimme Nachricht zu überbringen.
»Kommt, setzen wir uns«, sagte er und gab seinen Ermittlern ein Zeichen, abseits zu warten, damit er unter vier Augen mit Yuka sprechen konnte.
Er nahm Yuka den Besen aus der Hand und stellte ihn an die Wand. Sie setzten sich beide auf die schmale Veranda vor dem Schirmgeschäft, in den Schatten des Dachvorsprungs. Dann erklärte Sano Yuka behutsam, dass ihre Tochter ermordet worden war. Entsetzen und Ungläubigkeit spiegelten sich in Yukas Augen, als sie Sano mit bebenden Lippen anstarrte und qualvoll wimmerte. Dann wandte sie das Gesicht ab, um ihre Trauer zu verbergen.
»Bitte verzeiht, Herr«, flüsterte sie.
Sano sah die Tränen auf Yukas Wangen. Er hatte Mitleid mit der Frau, denn er konnte sich vorstellen, was es bedeutete, das eigene Kind zu verlieren. In seiner Hilflosigkeit rief Sano den Teeverkäufer herbei, drückte ihm eine Münze in die Hand und bat ihn, Yuka ein Schale Tee zu reichen. Schluchzend trank Yuka und beugte sich über die Schale in ihrer Hand, als würde sie trotz des heißen Tages deren Wärme genießen. Als sie sich ein wenig beruhigt hatte, erzählte sie mit matter, betrübter Stimme.
»Ich wusste, dass es mit Mariko eines Tages ein böses Ende nehmen würde«, sagte Yuka. »Aber ich wusste nicht, was mit ihr war.«
Die Zeit drängte, und wenngleich Sano unzählige Fragen durch den Kopf schossen, die er der Frau gern gestellt hätte, wartete er und hörte geduldig zu. Yuka verdiente den Trost, über ihr Kind zu sprechen, und Sano hatte das Gefühl, dass er mehr erfuhr, wenn er sie reden ließ, als wenn er eine förmliche Befragung vornahm.
»Als Mariko sieben Jahre alt war, starb ihr Vater«, begann Yuka. »Er hat in dem Schirmgeschäft gearbeitet. Der Besitzer hatte Mitleid mit mir und stellte mich als Dienstmädchen ein. Er erlaubte mir, mit Mariko im Hinterzimmer zu wohnen. Ich musste Tag und Nacht arbeiten und konnte mich nicht um das Mädchen kümmern. Zuerst machte ich mir keine Sorgen, weil sie ein ruhiges, gehorsames und liebes Kind war. Selbst als sie älter wurde, vertraute ich darauf, dass sie auf sich allein aufpassen konnte. Sie war kein hübsches Mädchen, wenn Ihr versteht … nicht die Sorte, denen die Jungen immer hinterherlaufen.«
Bisher deutete auch nichts darauf hin, dass es in Marikos Charakter gelegen hätte, Bestechungsgelder anzunehmen und ihre Herrin auszuspionieren. Sano beschlichen Zweifel, ob Mariko tatsächlich die Spionin des Drachenkönigs im Palast zu Edo gewesen sein könnte. Würde auch diese Fährte wieder in einer Sackgasse enden, trotz der versteckten Goldmünzen Marikos, die sie mehr als verdächtig machten?
»Aber vor zwei Jahren, als sie dreizehn war, ging sie immer öfter aus und blieb manchmal tagelang weg. Wenn ich sie fragte, wo sie gewesen war, wollte sie es mir nicht sagen. Sie wurde von Monat zu Monat verschlossener.« Yukas Tonfall erinnerte an die Wut, die Verwirrung und Enttäuschung, die das Verhalten ihrer Tochter bei ihr ausgelöst hatten. »Obwohl ich mit ihr geschimpft und sie geschlagen habe, sagte sie nichts und starrte nur in die Ferne.«
Sano lauschte Yuka wieder mit wachsender Aufmerksamkeit, denn er spürte, dass er nun etwas Wichtiges erfahren würde. Hier, da war er sicher, begann Marikos Irrfahrt, die sie von der Straße der Schirmmacher bis zum Drachenkönig geführt hatte.
»Eines Nachts, als Mariko wieder einmal seit fünf Tagen von zu Hause fort war, wurde ich durch lautes
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