Der Palast
er auf eine Theorie zurückgreifen konnte, die er kürzlich erst verworfen hatte.
»Ich habe Mariko getröstet«, sagte Yuka, »und nach einer Weile schien sie sich zu beruhigen. Ihre Wunden heilten. Sie aß wieder, wusch sich und zog sich ordentlich an. Ich sagte zu ihr: › Die Welt ist gefährlich. Wenn du dich wieder herumtreibst, wird es dir noch schlechter ergehen. Bleib hier bei mir. Hier bist du sicher.‹ Ich dachte, Mariko würde mich verstehen. Sie war höflich und gehorsam und half mir bei der Arbeit. Als ich schon glaubte, sie hätte sich geändert, ging sie wieder fort. Kurz vor Neujahr kehrte sie zurück. Zwei Samurai begleiteten sie. Mariko sagte zu mir: ›Mutter, ich bin gekommen, um dir Lebewohl zu sagen.‹«
Yuka hielt kurz inne und fuhr dann mit erschöpfter Stimme fort: »Zu dem Zeitpunkt konnte mich schon nichts mehr überraschen, was Mariko betraf. Deshalb fragte ich nur: ›Wohin gehst du?‹ – ›In den Palast zu Edo‹, erwiderte sie. Einer der Samurai sagte: ›Sie wird als Dienstmädchen für die Mutter des Shōgun arbeiten.‹ Dann gingen sie mit ihr fort. Es war das letzte Mal, dass ich Mariko gesehen habe.«
Wieder schlug eine Alarmglocke in Sanos Innerem an, als er diesen zweiten Hinweis erhielt, dass es möglicherweise doch eine Verbindung zwischen Mariko und den Entführungen gab. Er schwieg einen Moment, um Yuka Zeit für ihre Trauer zu lassen, dann sagte er: »Der Shōgun hat mir befohlen, die Person zu finden, die für die Verbrechen verantwortlich ist, wozu auch der Mord an Eurer Tochter gehört. Ich brauche Eure Hilfe.«
»Hilfe?« Yuka hob ihr gerötetes, tränennasses Gesicht. Sie schien um Jahre gealtert zu sein. »Was kann ich denn schon tun, um Euch zu helfen?«
»Sagt mir, wo ich das Gasthaus finde, in dem Hiroshi- san Mariko gesehen hat.« Sano vermutete, dass Mariko dieses Gasthaus am Abend vor Beginn der Pilgerreise aufgesucht hatte.
»Es befindet sich in einer Gasse, die von der Hauptstraße in Ginza abzweigt, acht Häuserblocks hinter der Silbermünzstätte«, sagte Yuka. »Dort müsst Ihr links in die Gasse einbiegen. Auf dem Schild des Gasthauses ist ein Karpfen abgebildet.«
»Könnt Ihr den Mann beschreiben, den Ihr dort getroffen habt?«, fragte Sano. Vielleicht war dieser Unbekannte nicht nur der Vater von Marikos totgeborenem Kind, sondern einer der Handlanger des Drachenkönigs, wenn nicht sogar der Drachenkönig selbst.
Yuka dachte nach. »Der Mann war Mitte dreißig und groß«, sagte sie dann. Sano vermutete, dass dieser zierlichen Frau wahrscheinlich viele Menschen groß erschienen. »Er sah gut aus, hatte aber irgendetwas an sich, das mir Angst einjagte.« Yuka runzelte nachdenklich die Stirn, als sie überlegte, wie sie ihren Eindruck genauer beschreiben konnte. »Es waren seine Augen«, fuhr sie dann fort. »Sie waren so schwarz, dass ich den Eindruck hatte, als könnte er hinausblicken, aber ich nicht hineinschauen. Ich hatte das Gefühl, die Augen dieses Mannes könnten mich in die Dunkelheit ziehen, in eine unergründliche Schwärze …«
»Kennt Ihr seinen Namen?«, fragte Sano.
Yuka schüttelte den Kopf. Obwohl Sano sie mehrmals fragte, konnte sie sich auch an keine weiteren Einzelheiten erinnern. Aber vielleicht half ja der Hinweis auf die sonderbaren Augen, um den Mann besser zu identifizieren, als zusätzliche Hinweise zu seinem Aussehen oder seiner Kleidung es getan hätten.
»Wer waren die beiden Samurai, die mit Mariko hierher kamen, als Ihr sie zum letzten Mal gesehen habt?«, fragte Sano.
»Ich weiß es nicht. Sie haben sich nicht vorgestellt. Und ich war zu ängstlich, um sie mir genau anzusehen. Aber sie trugen dasselbe Wappen wie Ihr.«
Yuka zeigte auf das dreifache Malvenblatt auf Sanos Umhang – das Wappen der Tokugawa. Entsetzen durchfuhr Sano. Wenn die Männer, die Mariko zum Palast zu Edo gebracht hatten, tatsächlich Tokugawa-Gefolgsleute waren, war es ein Beweis, dass jemand im bakufu einen Spion ins Innere Schloss eingeschleust hatte. Sano schauderte bei dem Gedanken, dem Shōgun mitteilen zu müssen, dass ein Verräter in seinem eigenen Regime lauerte. Angst stieg in ihm auf, die Suche nach dem Drachenkönig auf seine Gefährten auszudehnen – und Furcht vor den Gefahren, die solche Ermittlungen mit sich brachten. Doch Sano hatte sich noch nie vor Gefahren gescheut, wenn er der Wahrheit auf der Spur war. Er würde überall ermitteln, um Reiko und die Mutter des Shōgun zu retten.
»Mariko muss schlimme Dinge
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