Der Palast
ist. Da sie niemals gefunden wurde, liegt sie noch immer auf dem Grund des Sees – im Palast des Drachenkönigs.«
»Aber Hoshina hat Anemone nicht getötet«, sagte Toda. »Ihr Ehemann hat sie ermordet, was er ja selbst gestanden hat. Warum sollte jemand Hoshinas Hinrichtung fordern, weil Anemone ertrunken ist? Das ergibt doch keinen Sinn.«
»Vielleicht hatte Hoshina irgendetwas mit dem Mord zu tun«, sagte Sano. »Ich glaube, er könnte der Mann gewesen sein, der gleichzeitig der Geliebte von Dannoshin und von Anemone war.«
»Ja, es ist bekannt, dass Hoshina auch mit Frauen schläft, obwohl er Männer bevorzugt«, sagte Toda. »Wenn er der geheimnisvolle Liebhaber war, dann war Anemones Tod indirekt seine Schuld, weil Anemones Affäre mit Hoshina ihren Gatten dazu brachte, sie zu ertränken.«
»Jemand, der um sie trauert, könnte es übel nehmen, dass Hoshina einfach zur Tagesordnung überging.« Sano las den Eintrag noch einmal durch. »Wer immer das geschrieben hat – er hat versäumt, den Namen des Liebhabers zu nennen.«
»Vielleicht war das Absicht«, meinte Toda. »Was hat Hoshina vor zwölf Jahren gemacht, als Anemone und Dannoshin starben?«
»Er war bei der Polizei in Miyako beschäftigt«, erwiderte Sano. »Vielleicht hat er in beiden Todesfällen ermittelt. Es hätte einen schlimmen Skandal gegeben, und er wollte seinen Namen sicherlich aus dieser Sache heraushalten. Er könnte Beweise vernichtet haben, die ihn belastet hätten.«
»Und er hat dafür gesorgt, dass sein Name in keinem amtlichen Dokument auftauchte«, fügte Toda hinzu.
»Angenommen, er war tatsächlich der Dritte im Bunde – dann gäbe es noch einen weiteren Grund, die Wahrheit zu verschleiern«, sagte Sano. »Damals war Hoshina der Geliebte des shoshidai. « Der shoshidai war der Tokugawa-Beamte, der in Miyako als Statthalter des Regimes herrschte; stets handelte es sich beim shoshidai um einen Verwandten des herrschenden Shōgun. »Hoshina wollte sicherlich vermeiden, dass sein Herr erfährt, dass er seine Lust woanders stillt.«
»Das hätte ihn sein Amt kosten können«, sagte Toda. »Und es hätte ihn seiner Chancen beraubt, im bakufu aufzusteigen.«
Erschöpfung und der Druck, den Drachenkönig vor dem Mittag zu identifizieren und Fürstin Keisho-in zu retten, bevor der Shōgun die Geduld verlor und unüberlegt handelte, schmälerten Sanos Freude über den Erfolg. Er rieb sich die müden Augen und sagte: »Das sind alles Vermutungen. Und wenngleich ich sicher bin, dass es zwischen Anemone oder Dannoshin und dem Drachenkönig eine Verbindung gibt, wissen wir immer noch nicht, wer er ist – ganz abgesehen davon, wo er ist.«
»Ich werde mir die Namen ihrer Verwandten ansehen«, schlug Toda vor. »Ich kann auch überprüfen, welche Verwandten Angehörige des bakufu sind und in Edo leben. Aber es kostet Zeit, die Berichte aller Angehörigen aus den Archiven auszugraben und die Namen mit den tausenden auf der bakufu- Liste abzugleichen.«
Und Sano blieb nicht mehr viel Zeit. »Bittet Eure metsuke -Kollegen, Euch zu helfen«, sagte er und erhob sich.
»Einverstanden«, erwiderte Toda.
»Inzwischen versuche ich, auf kürzerem Weg eine Verbindung zum Drachenkönig herzustellen«, sagte Sano. »Ich glaube, mit dem, was wir nun wissen, wäre ein Gespräch mit unserem Freund Hoshina angebracht.«
Die Sonne stand hoch über dem Palast zu Edo, doch das Waldreservat warf lange Schatten auf den Wachturm, in dem Hoshina eingesperrt war. Obwohl es ein klarer Morgen war und sich kein Lüftchen unter dem blauen Himmel regte, verschleierten graue Regenwolken die fernen Berge und kündigten ein nahendes Unwetter an. Sano schritt über den Gehweg auf der Festungsmauer. Drei Wachen lungerten vor der Tür des Gefängnisses herum.
»Öffnet die Tür«, befahl Sano. »Ich will mit Hoshina- san sprechen.«
Die Wachen gehorchten. Sano trat in den Raum, dessen Steinwände die flüchtige Kälte der Nacht gespeichert hatten. Hoshina, der Sano den Rücken zuwandte, schlief auf dem Futon. Als Sano ihn ins Hinterteil trat, fuhr Hoshina mit einem ängstlichen Schrei aus dem Schlaf hoch und stand taumelnd auf. Ein Ausdruck nackter Panik legte sich auf sein Gesicht, als er nach seinem Schwert packte – und ins Leere griff. Dann sah er Sano. Obwohl er erleichtert aufatmete, fachte der Zorn seine Wachsamkeit an.
»Warum weckt Ihr mich so grob?«, fragte er. »Wollt Ihr mich zu Eurem Vergnügen quälen? Muss ich denn nicht schon genug
Weitere Kostenlose Bücher