Der Palast
nur geweigert hätte, die Reise anzutreten! Es wäre sicherlich leichter gewesen, die Bestrafungen durch Fürstin Keisho-in zu ertragen als die Schande und die Qualen, die der Drachenkönig ihr nun zufügte. Doch es war sinnlos, die Zeit zurückdrehen und die Zukunft beeinflussen zu wollen.
Der Drachenkönig beobachtete Reiko und wartete auf eine Reaktion. Reiko musste sich schnell etwas einfallen lassen. »Letzte Nacht habe ich kaum ein Auge zugetan«, sagte sie. »Ich musste immerzu an Euch denken. Ich habe mich an Eure Berührungen erinnert, an Euren Blick und den Zauber Eurer Nähe.«
Reikos Worte entstammten verschwommenen Erinnerungen an Liebesgedichte, die sie einst gelesen hatte. Mit ihrem verführerischen Augenaufschlag und ihrer ein wenig rauen, atemlosen Stimme ahmte sie die Schauspieler in romantischen Kabuki-Aufführungen nach. Der Drachenkönig starrte sie an. Seine Atem ging schneller. Er befeuchtete sich mit der Zunge die Lippen. Wogen heißer Erregung strahlten spürbar von ihm aus. Alles in Reiko rebellierte vor Abscheu und Angst, als die Gefahr näher rückte, doch sie presste die linke Hand auf ihren Busen, als wäre sie tatsächlich entzückt.
»Ich habe mich danach gesehnt, Euch zu sehen. Ich habe gebetet, dass wir uns bald wieder treffen«, flüsterte sie. »Wie dankbar ich bin, dass meine Gebete erhört wurden und wir wieder vereint sind!«
Der Drachenkönig streichelte ihre Wange. »Euer Tod hat uns zwölf Jahre lang getrennt. Doch auch zuvor waren wir schon entzweit. Dieser Mann, dessen Namen ich verabscheue, hat sich zwischen uns gestellt.« In dem glühenden Blick, mit dem der Drachenkönig Reiko verschlang, flackerte Zorn. Seine Hand spannte sich schmerzhaft um die Reikos. »Er war Eure Liebe nicht wert, Anemone. Er war ein grausamer, selbstsüchtiger Schurke, der nur mit Euch gespielt hat. Wie konntet Ihr ihn nur zu Eurem Liebhaber nehmen? Wie konntet Ihr mich nur im Stich lassen?«
Reiko fragte sich, wer dieser Mann war und was er mit der Entführung zu tun haben könnte. »Ich habe ihn nie geliebt«, sagte sie in der Hoffnung, den Drachenkönig zu besänftigen, dessen Hang zu Zornesausbrüchen sie bereits zu spüren bekommen hatte. »Nur Ihr allein zählt für mich.«
Ihre Worte besänftigten den Zorn des Drachenkönigs. »Oh, meine Liebste, dieser Mann hat uns so vieler Dinge beraubt.« Die Schatten dunkler Wolken zogen über den Balkon hinweg; Regen tropfte durch das Laub. Mit wehmütiger Stimme fuhr der Drachenkönig fort: »Wenn ich Euch für die verlorenen Jahre und für das Leben, das Euch genommen wurde, doch nur entschädigen könnte.«
Reiko ergriff die Gelegenheit beim Schopf. »Vielleicht gibt es etwas, das Ihr tun könntet …«, murmelte sie.
»Was wünscht Ihr, meine Liebste?« Der Drachenkönig lockerte seinen festen Griff und strich mit seinen feuchten Fingern über Reikos Handrücken.
Der Plan, den Reiko ersonnen hatte, um sich und die anderen Frauen zu retten, musste warten, weil Midoris Qualen Vorrang hatten. »Meine Freundin liegt in den Wehen«, sagte Reiko. »Ich hätte gerne eine Geburtshelferin für sie.«
Zu ihrer großen Enttäuschung spürte Reiko, dass der Drachenkönig gleichsam innerlich von ihr zurückwich, obwohl sein Körper an Ort und Stelle verharrte. Hinter seinem starren Blick senkte sich eine Schranke herab. »Das kommt nicht infrage«, erwiderte er barsch. »Ich kann es nicht erlauben, dass eine Frau hierher kommt und anderen erzählt, was sie gesehen hat.«
Reiko erkannte, dass dieser Mann trotz seines Wahnsinns noch logischer Gedanken fähig war. Auch wenn er sich der Illusion hingab, Reiko sei von Anemones Geist beseelt, wusste er, dass er sich schwerer Verbrechen schuldig gemacht hatte, für die der Shōgun ihn hart bestrafen würde, sollte man ihn fassen. Er erkannte die Notwendigkeit der Geheimhaltung.
»Aber meine Freundin braucht Hilfe! Sie und das Kind könnten sonst sterben.« Als Reiko die verärgerte Miene des Drachenkönigs sah, begriff sie, dass Midoris Schicksal ihm gleichgültig war. Reiko musste ihre Taktik ändern. Sie schürzte die Lippen, lächelte verführerisch und rückte näher an ihn heran. »Ihr seid ein so guter, liebenswürdiger und großzügiger Mann. Ihr wollt doch sicher nicht, dass einer unschuldigen Frau und ihrem Kind etwas zustößt?«
»Ich würde Euch den Wunsch ja gern erfüllen, aber es ist unmöglich«, sagte der Drachenkönig energisch. »Außerdem sind wir weit von allen Ortschaften entfernt,
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