Der Palast
und einen Futon. Offenbar schlief Dannoshin in diesem Gemach neben dem Schrein seiner Mutter. Er musste ihren Geist zwölf Jahre lang verehrt und sein mörderisches Rachebedürfnis genährt haben.
Sano betrat die Schreibstube, einen kleinen Raum mit Bücherregalen. Auf einem Schreibpult lagen zwei mit schwarzer Tusche beschriebene Blätter. Sano nahm sie auf. Yanagisawa schaute über Sanos Schulter und las laut vor:
»Die Frau strampelt wild im dunklen Wasser,
Ihr Haar und ihre Röcke breiten sich aus
Gleich den Blütenblättern einer Blume,
Die in den tiefen See geworfen wurde. «
»Das ist ein Entwurf des Gedichts, das in dem Erpressungsbrief stand«, sagte Yanagisawa.
»Und es beweist, dass Dannoshin tatsächlich der Drachenkönig ist.« Sano schaute auf das zweite Blatt. »Hört Euch das mal an.«
Er beraubt sie ihrer weiblichen Tugend,
Eigensüchtig stillt er sein Verlangen,
Der schurkische Hoshina, der den Tod verdient.
Nur Schmerz, Not und Zerstörung hinterlässt er,
Doch das Leid, das er bringt, kümmert ihn nicht.
Nicht einen Blick wirft der Verbrecher zurück,
Während das Schicksal ihn mit Wohlstand segnet.
Doch er kann der verdienten Strafe nicht entgehen.
Denn der Drachenkönig wird aus dem Meer steigen
Und schreckliche Vergeltung von ihm fordern.
Mit seinen goldenen Krallen wird er ihn packen
Und diesem üblen Verbrecher mit heißem Zorn
Seinen flammenden Atem ins Antlitz hauchen,
Auch wenn sie beide dabei untergehen.
»Jetzt wissen wir genau, dass Dannoshin es auf Hoshina abgesehen hat«, sagte Sano.
Yanagisawas Soldaten stürmten mit drei Frauen in den Raum. Es waren zwei junge Mädchen und eine ältere Frau mit ergrautem Haar. Alle drei hatten unübersehbar schreckliche Angst.
»Das sind die Haushälterin und die Dienstmädchen«, meldete ein Soldat. »Offenbar wissen sie nicht, wohin ihr Herr gegangen ist.«
Sanos Ermittler erschienen in der Tür. »Die Kasernen hinter dem Haus sind leer«, sagte Ermittler Inoue zu Sano. »Die Ställe ebenfalls. Es sieht so aus, als hätte Dannoshin all seine Gefolgsleute mitgenommen. Hier ist niemand.«
Yanagisawa fluchte leise. Enttäuschung und Verzweiflung raubten Sano den Mut. Jetzt hatten sie die Spur des Drachenkönigs bis zu seinem Haus verfolgt; umso herber war nun die Enttäuschung, dass diese Spur hier jäh endete.
Sano und Yanagisawa machten sich daran, die Schreibstube zu durchsuchen. Sie wühlten in Schubfächern, blätterten Papiere und Akten durch und suchten nach Hinweisen auf den Aufenthaltsort des Drachenkönigs. Die Ermittler und Soldaten ließen keinen Winkel des Anwesens aus. Schließlich versammelten sich alle auf dem Hof mit leeren Händen.
»Hat der große sōsakan-sama eine Idee?«, fragte Yanagisawa in spöttischem und zugleich verzweifeltem Ton.
Plötzlich erinnerte Sano sich an die längst vergangene Zeit, als er an einem Ort gearbeitet hatte, an dem sie die gesuchten Information finden könnten. »Ich habe tatsächlich eine Idee«, sagte er. »Kommt mit.« Er führte die Truppe aus dem Tor heraus zu den Pferden.
Midori stieß ein lang anhaltendes, qualvolles Jammern aus, als ein Krampf ihren Körper erschütterte. Sie krümmte den Rücken und bäumte sich auf. Vor Schmerzen kniff sie die Augen zu und biss die Zähne aufeinander. Ihre Finger krallten sich in den Futon. Tränen und Schweiß vermischten sich auf ihrem Gesicht. Fürstin Yanagisawa kniete auf einer Seite neben Midori und tupfte deren Stirn mit einem Tuch ab. Fürstin Keisho-in kauerte auf der anderen Seite.
»Die Schmerzen kommen immer häufiger. Die Geburt wird bald einsetzen«, sagte Keisho-in im selbstgefälligen Tonfall einer Expertin.
Reiko trommelte mit den Fäusten gegen die Tür. Unzählige Male hatte sie auf diese Weise versucht, sich bemerkbar zu machen, seitdem Midoris Wehen in der Nacht eingesetzt hatten. Mittlerweile war vermutlich schon Mittagszeit.
»Hilfe!«, schrie Reiko den Wachen zu. Ihre Stimme war heiser, und ihre Angst verwandelte sich in Panik. »Meine Freundin braucht eine Geburtshelferin! Bitte, bringt sofort eine her!«
Bisher hatten die Wachen Reikos Hilferufe beantwortet, indem sie ihr zornig befohlen hatten, mit dem Gepolter aufzuhören. Jetzt schlug jemand mit der Faust gegen die Tür. Ota, der oberste Gefolgsmann des Drachenkönigs, rief: »Auf Eure Schliche fallen wir nicht mehr herein.«
»Es ist die Wahrheit!«, rief Reiko verzweifelt. Eine Geburt war eine sehr gefährliche
Weitere Kostenlose Bücher