Der Palast
waren Yoritomos Fortschritte noch nicht weit genug gediehen; überdies hätte ausreichend Zeit Yanagisawa erlaubt, von Keisho-ins Entführung und einem Ableben des Shōgun zu profitieren. Doch das Schicksal hatte ihm ein Schnippchen geschlagen.
»Ich verstehe«, sagte Hoshina, dessen anfänglich gute Stimmung abflaute. »Was sollen wir tun?«
Die Zukunft, die Yanagisawa im Auge hatte, schloss Hoshina notwendigerweise mit ein, doch aus Vorsicht vermittelte er seinem Geliebten stets das Gefühl, ihn jederzeit fallen lassen zu können. »Wir werden alles tun, um Keisho-in zu retten«, sagte Yanagisawa.
Sie verließen den Turm und traten vom Schatten ins Sonnenlicht, als ein Bote über den Wehrgang zu ihnen eilte.
»Verzeiht, ehrenwerter Kammerherr.« Der Bote verneigte sich. »Soeben haben Soldaten Keisho-ins Leibdienerin von der Tōkaidō zurückgebracht. Sie ist im Krankenzimmer.«
Yanagisawa entließ den Boten und wandte sich an Hoshina. »Wir müssen wissen, was diese Frau während des Massakers gesehen hat. Sie könnte uns helfen, die Entführer zu identifizieren.« Dieser erste mögliche Durchbruch bei den Ermittlungen erfüllte den Kammerherrn mit Hochstimmung. »Geh sofort zu ihr und befrage sie, ehe Sano uns zuvorkommt.«
»Jawohl, Herr.« Ein unwirscher Beiklang in Hoshinas unterwürfigem Tonfall ließ erkennen, dass es ihm nicht gefiel, Befehle von seinem Geliebten entgegenzunehmen. Dabei wusste er natürlich, wie wichtig es war, die bisher einzige Tatzeugin zu verhören. Doch in letzter Zeit ärgerte er sich über das Ungleichgewicht der Macht, das Yanagisawa besaß, um sich selbst zu schützen. »Und was tut Ihr, wenn ich fragen darf?«
Als sie die Steinstufen hinunterstiegen, entgegnete Yanagisawa: »Ich werde meinen derzeit ärgsten Feind aufsuchen, um herauszufinden, ob er für das Massaker und die Entführungen verantwortlich ist.«
Eine kleine Gefolgschaft marschierte mit dem Kammerherrn Yanagisawa durch ein gesondertes Wohnviertel innerhalb des Palasts zu Edo, in dem bedeutende Angehörige des Tokugawa-Klans lebten. Auch zwei Schreiber befanden sich in Yanagisawas Begleitung; sie waren stets erforderlich, wenn es um offizielle Besuche bei hohen Hofbeamten ging. Dem Kammerherrn folgten fünf Leibwächter, die ihn überallhin begleiteten. Es herrschte eine schwüle, drückende Hitze. Ringsumher war das Zirpen der Insekten zu hören. Von einem Feuer in der Stadt stieg Rauch in den blaugrauen Himmel. Von einem Waffenübungsplatz in der Ferne hallten Kriegsschreie herüber. Truppen patrouillierten an den Festungsmauern, die die einzelnen Anwesen voneinander trennten. Yanagisawas Gefolge hielt vor einem Tor, hinter dem ein dreistöckiges Dach und eine verzierte, eiserne Doppeltür sichtbar wurden.
Einer von Yanagisawas Schreibern sprach die Torwachen an: »Der ehrenwerte Kammerherr Yanagisawa wünscht den ehrenwerten Fürsten Matsudaira zu sprechen.« Kurz darauf wurde Yanagisawa von Dienern in die Villa geführt, die dem Palast des Shōgun in nichts nachstand, was die Größe und den verschwenderischen Luxus anging. Hinter seiner kühlen Fassade schlug das Herz des Kammerherrn schneller, als er mit seinem Gefolge den Audienzsaal betrat.
Auf einem Podium saß Fürst Matsudaira, der Cousin des Shōgun, erster Mann der mächtigsten Gruppierung innerhalb des Tokugawa-Klans, daimyo einer Provinz in Kanto, einer fruchtbaren Gegend unweit Edos. Fürst Matsudairas Ähnlichkeit mit seinem Vetter war unverkennbar, nur war das Gesicht des Fürsten derber, als hätte ein Zauberspiegel seine aristokratischen Züge in die Breite gezogen, seinen Augen Intelligenz verliehen und seinen gebrechlichen Körper gestählt. Matsudaira erinnerte ein wenig an Ieyasu, den ersten Tokugawa-Shōgun, der Japan fast ein Jahrhundert zuvor vereint hatte. Der jetzige Shōgun, Tokugawa Tsunayoshi, hatte es lediglich dem Erstgeburtsrecht zu verdanken, dass er im bakufu den Platz vor Fürst Matsudaira einnahm.
Von Wachen umringt, die an den Wänden standen, starrte Matsudaira mit unverhohlen feindseligem Blick auf seine Besucher. Yanagisawa kniete vor dem Podium nieder; seine Gefolgsleute gingen hinter dem Kammerherrn in Position. Gast und Gastgeber verneigten sich, wachsam und misstrauisch, wie feindliche Generäle auf einem Schlachtfeld vor Beginn der Kampfhandlungen. Während Fürst Matsudaira und der Kammerherr dem Brauch entsprechend eine Erfrischung zu sich nahmen, behandelten sie sich so ausgesucht höflich, dass es
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