Der Palast
gehen«, beschloss sie.
Eine böse Vorahnung quälte Reiko, doch sie verdrängte den Gedanken daran, denn Zweifel und Angst würden die Chancen, ihre Freundinnen zu retten, nur verringern. Die Dämmerung warf dunkle Schatten in das Gefängnis. Reiko schaute auf die Ausschnitte des Himmels, die durch die Ritzen und Löcher an der Decke zu sehen waren. Sterne leuchteten im rötlichen Schimmer des Abendrots.
Reiko ging zur Tür, setzte sich daneben, legte den zerbrochenen Dachsparren auf ihren Schoß und wartete auf die Entführer.
12.
N
achdem Sano im Gefängnis von Edo die achtundvierzig verhafteten Mitglieder der Schwarzen Lotosblüte verhört hatte, kam er kurz vor Tagesanbruch erschöpft und mutlos nach Hause. Einige Sektenmitglieder hatten ihm erzählt, dass der Priester, den man »Höchste Weisheit« nannte, geheime Rituale in Tempeln und an verschiedenen Orten rund um Edo abhielt. Sano hatte Ermittler an diese Orte geschickt und ihnen den Befehl erteilt, sie zu durchsuchen. Aber diese Informanten wussten offenbar nichts über die Entführung und das Massaker. Die anderen Gefangenen waren fanatische Anhänger der Schwarzen Lotosblüte und weigerten sich, irgendetwas auszusagen, außer dass Hohepriester Anraku von den Toten auferstanden sei und irgendeinen Angriff auf den Tokugawa-Klan plane. Obwohl Sano nach wie vor der Überzeugung war, dass die Schwarze Lotosblüte hinter dem Verbrechen stand, musste er auch andere Möglichkeiten ins Auge fassen. Er beschloss, ein paar Stunden zu schlafen und anschließend in Edos Unterwelt nach Hinweisen zu suchen, wer die vier Frauen entführt haben könnte.
Als Sano die Privatgemächer seines Anwesens betrat, hörte er das Jammern eines kleines Kindes. Er lief den Flur hinunter und fand Masahiro schluchzend im Bett in seinem Kinderzimmer vor. Das Kindermädchen, das auf einem Futon neben dem Jungen schlief, wachte auf. Als das Mädchen zu dem Kind eilte, bemerkte es Sano und musterte ihn verwundert, denn normalerweise kümmerten sich Reiko oder die Dienstmädchen um Masahiro, wenn er nachts weinte.
»Ich kümmere mich um ihn«, sagte Sano zu dem Kindermädchen. Er hob Masahiro in seine Arme, schritt durchs Gemach und drückte den warmen, festen Körper seines Sohnes an seine Brust, was ihnen beiden Trost spendete. »Alles ist gut, Masahiro -chan «, beruhigte er das Kind. »Du hast schlecht geträumt.«
»Ich will zu Mama«, jammerte Masahiro und drückte sein heißes, tränennasses Gesicht an Sanos Wange.
»Mama ist nicht da, aber sie kommt bald wieder«, sagte Sano. Er sorgte sich um seinen Sohn und fragte sich, ob Masahiro spürte, dass etwas nicht stimmte. Vielleicht hatte er die Trauer bemerkt, die Reikos Entführung bei allen im Haus ausgelöst hatte.
»Verzeiht, sōsakan-sama «, sagte Ermittler Arai, der plötzlich in der Tür erschien. »Wir haben soeben eine Nachricht von Kammerherrn Yanagisawa erhalten. Er bittet Euch, ihn unverzüglich zu Hause aufzusuchen.«
Obwohl Sano niemals die Absicht gehabt hatte, das Anwesen des Kammerherrn Yanagisawa zu betreten, stand er nun mit vier Ermittlern vor der mit Eisenspitzen bewehrten Steinmauer. Die Dämmerung überzog den dunklen Himmel mit einem grauroten Schleier, doch Yanagisawas Zuhause schien die Reste der Nacht förmlich anzuziehen. Die Kiefern auf dem Grundstück warfen lange Schatten auf die Gebäude. Mit seinem scharfen Blick konnte Sano die Soldaten in den Wachtürmen und die Bogenschützen auf den Dachgiebeln sehen. Das Anwesen war eine Festung innerhalb des Palastgeländes und dazu bestimmt, den Kammerherrn vor Angriffen von Feinden am Hof des Shōgun zu schützen.
Wachen vor dem schmiedeeisernen Tor nahmen Sano und seinen Ermittlern die Schwerter ab und geleiteten sie auf das Grundstück. Sano wäre es lieber gewesen, wenn sie ihre Waffen hätten behalten können. Ob er nun einen Waffenstillstand mit dem Kammerherrn geschlossen hatte oder nicht – dieses Haus war feindliches Territorium für ihn. Gefolgt von seinen Ermittlern, schritt Sano mit unbehaglichem Gefühl über den gepflasterten Weg auf einen Hof, der von Soldatenkasernen umschlossen wurde, und über Grundstücke, auf denen weitere Wachposten rund um die miteinander verbundenen Flügel des herrschaftlichen Hauses patrouillierten. Wachhunde, von Bediensteten an Leinen geführt, knurrten und kläfften, als Sano von den Wachen in einen Garten geführt wurde.
Hier lagen mit Moos bewachsene Felssteine auf sauber geharktem Sand. Steinerne
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