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Der Palast

Der Palast

Titel: Der Palast Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Rowland
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triumphierenden Blick zu. Sano sah das Entsetzen in deren Mienen, als sie erkannten, dass Ryuko so großen Einfluss auf den Shōgun errungen hatte, dass er sie durch ein falsches Orakel all ihrer Macht berauben konnte. In diesem Augenblick war Sanos Wut größer als die Angst, auch das eigene Amt zu verlieren. Der sōsakan-sama verspürte tiefen Hass auf den Priester, der sich auf alle im Raum übertrug. Ryuko, Yanagisawa und Hoshina – jeder von ihnen hoffte, die Entführungen zum eigenen Vorteil nutzen zu können. Sie interessierten sich einzig und allein für ihre eigene politische Karriere. Und der Shōgun interessierte sich nur für seine Mutter. Keiner von ihnen verschwendete einen Gedanken an Reiko, Midori oder die hundert Menschen, die bei dem Massaker ihr Leben verloren hatten.
    Sanos Zorn drohte die Schranken seiner Selbstbeherrschung niederzureißen. Er musste gehen, ehe er in blinder Wut jemanden tötete. Er stand auf. Die anderen starrten ihn fassungslos an. Wie konnte er es wagen, sich zu erheben, ehe der Shōgun ihm die Erlaubnis erteilt hatte? Sano verneigte sich vor allen Anwesenden. Dann verließ er zum ersten Mal das Gemach, ohne die Erlaubnis seines Herrn erhalten zu haben. Die tosende Wut in seinem Kopf übertönte die Stimme des Shōgun, der seinen Namen rief.
    Als Sano das Gebäude verlassen hatte, rannte er an der Festungsmauer entlang durchs Dämmerlicht. Er hörte nicht auf die Wachen an den Kontrollpunkten, die ihn anriefen, er solle stehen bleiben, damit sie seine Identität überprüfen konnten. Atemlos und verschwitzt erreichte er sein eigenes Anwesen. Die Wachen öffneten ihm das Tor. Erst als er den Hof erreicht hatte, blieb er keuchend stehen.
    Eine jähe Erkenntnis verdrängte seine Wut.
    Dass er die Besprechung ohne die Erlaubnis des Shōgun verlassen hatte, würde Reikos Situation schwerlich verbessern. Der Shōgun könnte ihm sogar die Ermittlungen in dem Entführungsfall entziehen – falls Priester Ryuko seinen Herrn nicht bereits davon überzeugt hatte, Sano zu verbannen oder hinrichten zu lassen. Wer würde dann seine Gemahlin retten? Sano dachte an Hirata. Es bestand kaum Hoffnung, dass sein oberster Gefolgsmann die Frauen mithilfe von Marume und Fukida fand. Sano fluchte über seine Unbesonnenheit. Die einsetzende Dunkelheit und die kalte Abendluft machten seine Angst, dass Reiko für immer verloren war und die Welt ringsumher zusammenbrach, nur noch schlimmer.
    Sano hatte das Bedürfnis, irgendetwas zu tun, um seine Verzweiflung zu bekämpfen. Jetzt erinnerte er sich daran, dass im Gefängnis in Edo zahlreiche Anhänger der Schwarzen Lotosblüte saßen, die er verhören musste. Als er zu den Kasernen ging, um einen Trupp Ermittler zusammenzustellen, kämpfte er gegen die Zweifel an, dass die Schwarze Lotosblüte die Frauen gar nicht entführt hatte und dass er mit einem Besuch im Gefängnis nur kostbare Zeit verschwendete.
    Erneut stieg Angst um Reiko in ihm auf.
    Seine Frau neigte nicht dazu, eine missliche Lage untätig zu ertragen. Sano wusste, dass Reiko versuchen würde, zurückzuschlagen und den Entführern zu entfliehen. Würde es ihr gelingen? Oder würde der Wagemut ihr das Genick brechen?
     
    Reiko reckte sich und streckte die Arme zu den Dachsparren aus, die kreuz und quer über die Decke des Gefängnisses verliefen. Sie hatte ihre Röcke um die Hüften geschlungen und ihre Füße auf Fürstin Yanagisawas Schultern gestellt. Die Fürstin umklammerte Reikos Knöchel und taumelte unter dem Gewicht auf ihren Schultern. Als die Fürstin bedrohlich schwankte, wedelte Reiko mit den Armen und bemühte sich, das Gleichgewicht zu halten.
    »Seid vorsichtig, Reiko -san «, sagte Fürstin Keisho-in. An Fürstin Yanagisawa gewandt, fügte sie hinzu: »Lasst sie nicht fallen, Närrin!«
    Augen und Mund vor Angst aufgerissen, beobachtete Midori das Geschehen. Fürstin Yanagisawa gelang es, das Gleichgewicht zurückzuerlangen. Reiko streckte die Arme in die Höhe und bekam einen Dachsparren zu fassen. Ein Loch in der Decke erlaubte es ihr, die runden Balken mit beiden Händen zu umklammern. Das Holz, Wind und Wetter ausgesetzt, war rau, morsch und teilweise gesplittert. Reiko zog an dem Dachsparren. Er bewegte sich nicht.
    »Zieht fester«, sagte Keisho-in, während Fürstin Yanagisawa unter Reikos Gewicht schwankte.
    Reiko, die sich wünschte, Fürstin Keisho-in würde endlich den Mund halten, hängte sich mit ihrem ganzen Gewicht an den Dachsparren. Eine Stechmücke setzte

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