Der Palast
sich auf Reikos Kinn, doch sie ließ sich durch den Stich nicht beirren. Plötzlich ertönte ein lautes Knacken, und der Sparren brach entzwei. Die nachlassende Spannung des Balkens verlieh Reiko Schwung und drückte sie in die Tiefe. Wie eine Wand, die von einem Erdbeben erschüttert wird, brach Fürstin Yanagisawa unter dem Gewicht auf ihren Schultern zusammen und ließ Reikos Fußknöchel los. Alles geschah so schnell, dass Reiko keine Zeit blieb, einen Sturz zu verhindern.
Sie schlug mit dem Rücken auf dem Boden auf. Der Aufprall war so hart, dass er ihr den Atem raubte. Midori schrie auf. Keisho-in beschimpfte Fürstin Yanagisawa, die neben Reiko zusammengesunken war und sich nun ängstlich über die stöhnende junge Frau beugte.
»Oh, Reiko -san , verzeiht! Ich konnte Euch nicht mehr halten«, beteuerte die Fürstin. »Ist alles in Ordnung?«
Benommen richtete Reiko sich auf. Das Herz schlug ihr bis zum Hals. Ihr Rücken schmerzte, doch sie schien nicht ernsthaft verletzt zu sein. »Mir ist nichts geschehen«, erwiderte sie.
Vielleicht war es ein Fehler gewesen, Fürstin Yanagisawa aus dem Dämmerzustand zu wecken. Hatte die Frau sie absichtlich losgelassen? Konnte sie Fürstin Yanagisawa vertrauen, bei ihrem Fluchtplan mit ihr zusammenzuarbeiten und sie nicht zu behindern? Wie sehr hätte sie sich gewünscht, die Entführer wären ihr einziges Problem gewesen! Wenigstens hielt sie den abgebrochenen Dachsparren in Händen – dick, schwer und so lang wie ihr Bein.
»Nun haben wir die Waffe, die wir brauchen«, sagte Reiko, die den Dachsparren siegessicher in die Höhe stemmte.
Midori lächelte; Fürstin Keisho-in klatschte in die Hände.
»Jetzt warten wir, bis die Männer die Tür öffnen und den Raum betreten.« Reiko beobachtete Fürstin Yanagisawa. Diese wich ihrem Blick aus, was Reikos Vertrauen in sie nicht gerade stärkte. »Ihr lenkt sie ab, wie wir es besprochen haben. Dann …« Reiko schwang den Sparren, als wollte sie einen unsichtbaren Feind erschlagen. »Sobald die Männer bewusstlos sind, laufen wir alle davon.«
»Ich glaube nicht, dass ich schnell laufen kann«, sagte Midori in jämmerlichem Tonfall. Sie erhob sich mühsam und ging taumelnd ein paar Schritte. Ihr dicker Leib spannte und entspannte sich in raschem Wechsel. »Ich kann ja kaum gehen«, fügte sie leise hinzu, ehe sie kraftlos zu Boden sank.
In Reiko stieg Verzweiflung auf. »Du musst es versuchen. Ich werde dir helfen.«
»Auch ich kann nicht gehen. Meine Knie sind zu steif«, jammerte Fürstin Keisho-in und hob ihre Röcke, um Reiko die geschwollenen Gelenke zu zeigen. »Ihr müsst mich tragen.«
Reiko wechselte einen Blick mit Fürstin Yanagisawa, die sie ungläubig anschaute. Sie konnten es unmöglich schaffen, die Mutter des Shōgun zu tragen und gleichzeitig Midori zu stützen.
»Bitte geht ohne mich. Ich bleibe zurück. Ihr müsst Euch in Sicherheit bringen«, sagte Midori voll aufopfernder Tapferkeit.
»Ich lasse dich nicht hier zurück!«, widersprach Reiko empört. Wenn sie, Fürstin Yanagisawa und Keisho-in entkamen, würden die restlichen Entführer rasch bemerken, was geschehen war. Die bloße Vorstellung, Midori könnte dem Zorn der Verbrecher allein ausgesetzt sein, ließ Reiko schaudern. Doch es schien keine Möglichkeit zu geben, Midori und Fürstin Keisho-in in Sicherheit zu bringen. Die Unbeweglichkeit der beiden Frauen würde die Chance auf eine erfolgreiche Flucht sehr verringern. Wer konnte sagen, was geschah, wenn die Entführer sie zu fassen bekamen. Anderseits war ihrer aller Schicksal besiegelt, wenn sie nichts unternahmen.
»Fürstin Keisho-in und Midori -san werden hier warten«, sagte Reiko zu Fürstin Yanagisawa. »Ich bleibe bei ihnen und verteidige sie, während Ihr Hilfe holt.«
Midori lächelte unter Tränen. Sie war dankbar, dass Reiko sie nicht im Stich ließ. Keisho-in hob die Augenbrauen, als überlegte sie, ob sie widersprechen sollte. Fürstin Yanagisawa warf Reiko einen entsetzten Blick zu.
»Ich kann nicht«, jammerte sie mit erstickter Stimme. »Ich weiß nicht, wohin ich gehen soll. Ich würde mich verlaufen. Und mit Fremden sprechen und sie um Hilfe bitten …« Fürstin Yanagisawa schüttelte den Kopf. »Das kann ich nicht.«
»Ihr müsst«, beharrte Reiko.
»Nein. Ich kann nicht. Bitte, zwingt mich nicht.« Fürstin Yanagisawa zitterte und schauderte. Sie schloss die Augen.
Reiko erkannte, dass sie der Fürstin tatsächlich zu viel abverlangte. »Dann muss ich
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