Der Palast
Polizeikommandeur Hoshina als Mörder, lasst ihn hinrichten und seinen Leichnam am Fuße der Nihonbashi-Brücke zur Schau stellen. Wenn Ihr meinen Befehlen folgt, werde ich Fürstin Keisho-in und ihre Freundinnen freilassen. Befolgt Ihr die Befehle nicht, werden sie getötet.
Sanos Interesse an dem Gedicht war gering; es ergab ohnehin keinen Sinn für ihn. Stattdessen las er die Forderungen der Entführer ein zweites Mal und schüttelte den Kopf. Er hob den Blick zu Kammerherrn Yanagisawa, der ihn mit mühsam beherrschter Miene betrachtete.
»Der Shōgun ist nicht das Ziel der Entführer, und Ihr und ich sind es auch nicht«, sagte Sano. »Es ist Hoshina- san !«
Damit hatten sie beide nicht gerechnet. Niemand hatte sie vorgewarnt, und die Theorien, die sie in ihrer Unwissenheit aufgestellt hatten, hatten ihre Ermittlungen in die falsche Richtung gelenkt.
»Wir haben Verdächtige an den falschen Orten verfolgt!«, stieß Sano hervor.
»In der Tat.« Yanagisawa drehte sich um und blickte hinaus auf den Garten, in dem der Morgen erwachte und die Schatten vertrieb. Die Landschaft nahm Formen und Farben an. Sano brachte die Morgendämmerung doppelte Erleichterung, denn nicht nur die schier endlose Nacht ging zu Ende – nun kannte er auch die Motive der Entführer und wusste, wie er Reiko retten konnte.
Doch gleich darauf folgte die Erkenntnis, dass die Bedingungen der Erpresser sie in noch größere Gefahr brachten, als Sano vermutet hatte.
»Was werdet Ihr tun?« Als Sano seine Frage stellte, durchflutete ihn eine neuerliche Woge der Angst.
Der Kammerherr hob die Schultern auf eine Weise, die das Dilemma bekundete, in dem er sich befand. Würde er die Hinrichtung Hoshinas zulassen, seines Geliebten, auch wenn er sich die Rettung Fürstin Keisho-ins wünschte und die Schlacht zu Gunsten des Shōgun gewinnen wollte? Sano erkannte, dass Yanagisawa Hoshina tiefe Gefühle entgegenbrachte, sonst hätte er dem Shōgun den Brief bereits übergeben, und Hoshina wäre schon auf dem Weg zum Richtplatz. Doch als Sano sich fragte, warum Yanagisawa ihm die Nachricht der Entführer auf diese Weise mitgeteilt hatte, sah er seiner eigenen Zwangslage ins Auge: Er konnte im Tausch gegen die Frauen kein Blutopfer in Kauf nehmen, auch wenn Hoshina sein Feind und Reikos Leben in Gefahr war.
»Wann werdet Ihr es Hoshina -san sagen?«, fragte Sano.
»Jetzt.« Yanagisawa rief seinen Wachposten zu: »Bringt den Polizeikommandeur hierher.«
Es dauerte nicht lange, bis Hoshina über den Weg geschlendert kam. Er trug einen beigefarbenen, seidenen Morgenrock, der seine nackte Brust, seine Waden und Füße unverhüllt ließ. Der Polizeikommandeur gähnte mit schlaftrunkenem Blick. Als er Sano sah, blieb er vor dem Pavillon stehen; seine schläfrigen Augen blinzelten verwundert.
»Was geht hier vor?«, fragte Hoshina.
»Die Entführer haben uns ihre Forderungen mitgeteilt.« Yanagisawa nahm Sano den Brief aus der Hand und reichte ihn Hoshina.
»Endlich.« Hoshina schien Yanagisawas kühlen Tonfall nicht zu bemerken. Die Nachricht fesselte seine ganze Aufmerksamkeit. Er sprang die Stufen zum Pavillon hinauf, ergriff eifrig den Brief und las. Das Gedicht schien ihn zu verwirren, doch als er zu den Forderungen der Entführer gelangte, riss er fassungslos Augen und Mund auf. Der Schock fuhr ihm in die Glieder.
»Die Entführer wollen meinen Tod!«, rief Hoshina. »Das ist der Grund für das Verbrechen!« Er ließ den Brief fallen und drehte sich alarmiert zu Yanagisawa um. »Aber der Shōgun würde mich nicht hinrichten lassen, um Fürstin Keisho-in zurückzubekommen, nicht wahr?«
Doch Yanagisawa antworte nicht, sondern wich dem Blick seines Geliebten aus.
Sano kannte den Grund. Er wusste, dass die Liebe des Shōgun zu seiner Mutter unendlich viel größer war als sein Interesse an Hoshinas Schicksal. Ja, Tokugawa Tsunayoshi würde all seine Gefolgsleute niedermetzeln lassen, um seine geliebte Mutter zurückzubekommen.
Auch Hoshina erkannte in diesem Augenblick die furchtbare Wahrheit.
»Ihr werdet dem Shōgun den Brief nicht zeigen, nicht wahr?«, sagte er mit zittriger Stimme und umklammerte Yanagisawas Arme. »Ihr werdet nicht zulassen, dass er mich töten lässt, um seine Mutter zu retten, nicht wahr?«
Der Kammerherr hob die Hände und legte sie in einer Geste der Hilflosigkeit und Zuneigung auf Hoshinas Unterarme. »Ich kann nicht zu deinen Gunsten einschreiten«, erwiderte er in stillem Bedauern, als er Hoshina in die
Weitere Kostenlose Bücher