Der Palast
Erdgeschoss hinunter.
Reiko gelangte in einen Raum, der einst als Waffenkammer gedient haben musste, denn aus den Wänden ragten Haken und Halterungen für Waffen. Auf dem Steinboden lag eine verrostete Kanone. Die Doppeltür aus schwerem Holz und Eisenplatten zog sie magisch an. Ein Türflügel war nach außen geöffnet und zeigte einen viereckigen Ausschnitt des Tageslichts. Reiko lief zur Tür und spähte hinaus. Auf einen schmalen Treppenabsatz folgten wenige Steinstufen, die zu einem gepflasterten, verlassenen Grundstück führten. Dahinter erstreckte sich ein Wald aus Kiefern, Zypressen und Ahornbäumen und tauchte die Ferne in Dunkelheit. Auch unmittelbar neben dem Turm wuchsen zu beiden Seiten Bäume. Reiko konnte es kaum erwarten, den Weg in die Freiheit einzuschlagen. Hastig stieg sie die Stufen in die kühle, feuchte Luft hinunter und lief über die rissigen, gesprungenen Steinplatten. Eine Lücke im Wald kennzeichnete den Weg, über den die Entführer sie und die anderen Frauen hierher gebracht haben mussten. Hier blieb Reiko stehen, drehte sich um und überzeugte sich, dass ihr niemand gefolgt war. Jetzt konnte sie auch einen Blick auf das Gefängnis werfen.
Es war ein hoher, viereckiger Turm. Eine ganze Reihe der flachen Steine, die das schräge Fundament säumten, waren im Laufe der Jahre herausgebrochen, sodass der Unterbau aus Lehm sichtbar wurde. Feuer hatte die Mauern des Turms, die einst aus weißem Putz bestanden hatten, schwarz und grau verfärbt und das Balkenwerk zerstört. Geschwungene Dachvorsprünge warfen Schatten auf die drei unteren Stockwerke und die vergitterten Fenster. Im vierten, obersten Stock umschlossen ein Stück einer verfallenen Mauer und die Reste eines Ziegeldachs eine Ecke. Nach oben hin war der Raum zum Himmel geöffnet, über den dunkle Unwetterwolken zogen und die Sonne verdeckten. Rings um den Turm lagen Trümmer. Reiko begriff, dass das Gefängnis das Verlies eines Palasts sein musste, der vermutlich während des Bürgerkriegs im letzten Jahrhundert zerstört worden war. Doch sie hatte keine Ahnung, wo in aller Welt dieser Palast stand.
Reiko schlich den mit niedergetretenem Unkraut überwucherten Pfad hinunter. Eine Brise belebte den Wald und erzeugte seltsame Geräusche. Hier und da durchbrachen Sonnenstrahlen das Geäst, was dem Wald ein unheimliches Licht verlieh. Da Reiko diese Wildnis unbekannt war, zuckte sie jedes Mal zusammen, wenn ein Knistern oder Knacken im Unterholz ertönte. War das der Schrei eines Tieres? Die Stimme eines Menschen? Einer der Entführer, der durch den Wald schlich?
So leise sie konnte, lief Reiko weiter und hielt den Dolch so in der Hand, dass sie sofort zustechen konnte, falls jemand aus dem Wald kam und sich auf sie stürzte. Unglücklicherweise trug sie einen Kimono aus blauer Seide mit einem Muster aus lavendelfarbenen Lilien, dessen Farbe einen auffallenden Kontrast zum Grün des Waldes bildete.
Nachdem Reiko ungefähr dreißig Schritte in den Wald vorgedrungen war, gabelte sich der Weg. Sie schaute auf den Pfad zu ihrer Rechten und sah hinter einem Zypressenhain die Spitzen und Giebel von Ziegeldächern, die zu den Nebengebäuden des Palasts gehörten. Dort musste das Hauptquartier der Entführer liegen. Reiko entschied sich für den Pfad linker Hand. Er führte im Kreis zurück zum Verlies, dessen verfallene Spitze Reiko über den Wipfeln der Bäume erblickte. Kurz darauf endete der Pfad am Waldrand.
Reiko stand vor einem kleinen, mit hohem Gras bewachsenen Abhang, der den Wald von dem Wasser trennte, das sie während der Gefangenschaft hatte rauschen hören. Das Wasser, das am Rand mit Schilf bewachsen war, schimmerte in verschiedenen Blautönen unter den Wolkenfetzen, die über den Himmel zogen. Es schien ein See zu sein, der sich ein paar hundert Meter zum anderen Ufer erstreckte, wo Bäume in den Himmel ragten. Die Oberfläche des Sees kräuselte sich im Wind. Reiko wandte den Blick nach rechts und sah, dass der See größtenteils von Sumpf umgeben war. Das Gebiet unmittelbar zu ihrer Linken war gerodet worden; das Verlies ragte in den See. Wellen umspülten das steinerne Fundament. In Reiko keimte Panik auf. Sie hatte keine Möglichkeit, den See zu durchqueren, da sie nicht schwimmen konnte. Mädchen ihres Ranges hatten dies in der Kindheit nicht gelernt wie zum Beispiel die Töchter von Fischern. Noch konnte sie dem Ufer folgen und hoffen, irgendwann auf ein Dorf zu stoßen, weil sie den Turm nicht umrunden und nicht
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