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Der Palast

Der Palast

Titel: Der Palast Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Rowland
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das Sumpfgebiet durchqueren konnte. Sie hatte die falsche Richtung eingeschlagen und wertvolle Zeit vergeudet.
    Reiko lief zurück in den Wald, Richtung Westen ins Inland, kletterte über Baumstämme, die im Weg lagen, kroch durch das Unterholz und duckte sich unter den niedrigen Zweigen, bis sie auf einen Weg gelangte. Dieser führte gefährlich nahe an den Palast heran. Kaum zwanzig Meter entfernt stand ein niedergebranntes Gebäude. Über den Dächern angrenzender, unbeschädigter Häuser sah Reiko Rauch aufsteigen. Der Geruch von Fisch, der auf Kohlenfeuer geröstet wurde, stieg ihr in die Nase. Ihr Magen knurrte, denn sie hatte nichts mehr gegessen, seitdem die Entführer gestern das Essen gebracht hatten. Von wahnsinniger Angst getrieben, jeden Augenblick auf die Entführer zu stoßen, eilte Reiko weiter, an verfallenen Mauern entlang und durch Wälder. Zugleich hielt sie verzweifelt nach einer Straße Ausschau, die sie zu einem Ort führte, wo sie freundliche Menschen treffen würde. Bald gelangte sie ans Ende des Waldes und erneut an einen Abhang, der sich zum Wasser senkte.
    Reiko blickte ungläubig auf den glitzernden See, die sumpfigen Untiefen und die Wälder dahinter. Hatte sie die Orientierung verloren und kehrte nun an den Ort zurück, von dem sie soeben geflohen war? Als sie sich umdrehte, sah sie den Turm hinter sich aufragen. Und am fernen Horizont jenseits des Sees waren Berge zu erblicken, die sie zuvor nicht gesehen hatte. Reiko schlug das Herz bis zum Hals, als ihr ein entsetzlicher Gedanke durch den Kopf schoss. Unschlüssig lief sie am Ufer entlang – zuerst in die eine, dann in die andere Richtung. Überall schmiegte der Wald sich ans Ufer des Sees, den Reiko nie aus den Augen verlor, und alle Wege führten zurück zum Turm. Reiko sah ihre schlimmsten Befürchtungen bestätigt.
    Der Palast stand auf einer Insel.
    Sie saß in der Falle.
    Keuchend vor Angst, starrte Reiko hinaus auf den See. Das gegenüberliegende Ufer, das so verlockend nahe war, schien ihre törichten Hoffnungen zu verspotten. Wolken verdunkelten den Morgenhimmel; Regentropfen prasselten aufs Wasser. Reiko dachte an Midori, Fürstin Yanagisawa und Keisho-in, die ihr vertrauten und auf Rettung hofften. Sie dachte an das Risiko, das sie eingegangen war, und fragte sich, ob all ihre Anstrengungen vergebens waren. In ihrer Verzweiflung hätte Reiko am liebsten laut um Hilfe geschrien.
    Plötzlich hörte sie die Stimmen von Männern, die um eine Ecke bogen. Die Angst trieb Reiko zurück in den Wald. Sie kauerte sich hinter einen Baum und blickte aufs Seeufer. Drei Samurai, die mit Schwertern und Bögen bewaffnet waren und mit Pfeilen gefüllte Köcher bei sich trugen, traten in ihr Blickfeld. Aus der anderen Richtung kamen ebenfalls drei Samurai. Die beiden Gruppen trafen sich und blieben stehen. Mit pochendem Herzen lauschte Reiko dem Wortwechsel.
    »Habt ihr etwas von ihr gesehen?«
    »Noch nicht.«
    Die Männer wussten also bereits, dass sie aus dem Turm geflohen war. Sie hatten ihre gefesselten und geknebelten Komplizen gefunden und die Suche nach ihr begonnen.
    »Weit kann sie nicht gekommen sein.«
    »Sie wird sich im Wald verstecken.«
    Die sechs Männer blickten in Reikos Richtung. Sie erstarrte und hielt den Atem an, um jedes verräterische Geräusch zu vermeiden. Schließlich drangen die Männer in den Wald vor und gingen so nahe an Reiko vorbei, dass sie ihre Verfolger hätte berühren können.
    Hatten sie ihre Freundinnen schon bestraft? Reiko befürchtete, dass die Entführer auch ihnen die Schuld am Fluchtversuch gaben und sich an ihnen rächen würden.
    Doch trotz ihrer Angst hatte sie plötzlich eine rettende Idee.
    Es gab einen Weg, diese Insel zu verlassen. Die Entführer mussten Boote besitzen, in denen sie die Frauen und ihre Vorräte über den See zum Palast transportiert hatten. Reiko könnte entkommen, wenn sie ein Boot fand, ehe die Entführer sie erwischten.
    Sie rannte durch den Wald, entfernte sich von den Verfolgern und steuerte auf das nördliche Ufer der Insel zu, das sie noch nicht gesehen hatte. Vielleicht war dort ein Boot festgemacht. Den Gedanken, dass sie weder segeln noch rudern konnte, verdrängte sie. Reiko vertraute auf ihr Glück, als sie an dornigen Sträuchern vorbeilief – und erstarrte. Ungefähr fünfzehn Schritte entfernt führte ein Pfad über den Weg. Zwei mit Knüppeln bewaffnete Bauern liefen diesen Pfad hinauf und hinunter. Ein kleines Stück weiter, wo der Wald sich lichtete,

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