Der Palast
Bauernjunge, der gestern das Essen gebracht hatte, stürmte schreiend in den Raum. »Was ist? Was ist?«, rief er. Er trug einen Kübel bei sich, den er auf den Boden stellte; dann beugte er sich über seinen Kameraden.
Reiko ließ den abgebrochenen Dachsparren fallen, der ihr nun nicht mehr als Waffe dienen konnte, und warf sich auf den Jungen. Der schrie vor Erschrecken auf und stolperte ungestüm durch den Raum, bis er gegen die Wand prallte. Als er das Gleichgewicht wiedererlangt hatte und sich umdrehte, hob Reiko den Kübel, der mit Suppe gefüllt zu sein schien, und schleuderte ihn.
Der Kübel traf den Jungen in den Magen. Brühe, Algen und Tofu spritzten auf den Boden. Der Junge starrte die Frauen an. Auf seinem noch kindlichen Gesicht spiegelten sich Bestürzung und Fassungslosigkeit, dass die Gefangenen sich auflehnten. Dann wurde ihm klar, dass nun ihm die Aufgabe zufiel, die Ordnung wiederherzustellen. Mit einem gellenden Schrei streckte er die Arme vor und stürzte sich auf Reiko.
Reiko hob das lange Bruchstück des Balkens vom Boden auf und versetzte dem Jungen damit einen Schlag auf die Stirn. Mit einem dumpfen Aufprall, der den Raum erbeben ließ, fiel er zu Boden und blieb reglos liegen.
In der jäh einsetzenden Stille wanderten die Blicke der Frauen von den besiegten Feinden zu ihren Gefährtinnen. Die bislang erfolgreiche Ausführung von Reikos Plan machte sie sprachlos. Reiko konnte kaum glauben, dass der Kampf nur wenige Minuten gedauert hatte.
Erschöpft rang sie nach Atem und versuchte, das Schwindelgefühl zu bekämpfen. Das Herz klopfte laut in ihrer Brust, doch sie hatte keine Zeit, sich lange zu erholen. »Helft mir, die Männer zu fesseln«, befahl sie Fürstin Yanagisawa.
Sie rollten den Samurai auf den Bauch und zogen die Schärpe von seiner Taille. Mit dem langen Baumwollband fesselten sie die Fußknöchel des Mannes und banden ihm die Handgelenke auf dem Rücken zusammen. Anschließend fesselten sie auch den Jungen.
»Warum töten wir sie nicht einfach?«, fragte Keisho-in. »So wie diese Verbrecher uns bedroht haben, verdienen sie den Tod.«
»Wollt Ihr, dass ihre Kameraden Rache an uns üben?«, entgegnete Reiko, zog den Männern Sandalen und Socken aus und stopfte ihnen die Socken in den Mund, damit sie ihre Kumpane nicht rufen konnten, wenn sie aufwachten. Anschließend hob sie das Schwert des Samurai auf und drückte es Fürstin Yanagisawa in die Hand. »Verteidigt Euch, Midori und Fürstin Keisho-in mit dem Schwert, falls nötig.«
Fürstin Yanagisawa umklammerte die Waffe so ungeschickt, als hätte sie Angst, sich zu verletzen. »Aber ich weiß nicht, wie …«
Reiko hatte keine Zeit, ihr das Schwertfechten beizubringen. »Gebt Euer Bestes«, sagte sie, zog den Dolch des Samurai aus der Scheide an seiner Taille und eilte zur Tür. »Ich muss mich beeilen!«
»Viel Glück«, sagte Midori, »und seid vorsichtig!«
»Bringt das Heer mit«, befahl Keisho-in.
Halb nackt und mit verlorenem Blick kauerte Fürstin Yanagisawa auf dem Boden. Die Hand, in der sie das Schwert hielt, zitterte.
Es war Reiko zuwider, ihre Freundinnen so hilflos zurückzulassen. Doch sie hatte keine Wahl. Sie huschte durch die Tür, betrat einen leeren Raum und schaute durch die vergitterten Fenster auf belaubte Zweige. Die verputzten Wände mit den dicken Holzbalken, die diesen Raum von dem Gefängnis trennten, waren von Feuer geschwärzt. In der Mitte führte eine Holztreppe nach oben zu einem viereckigen Loch in der Decke. Durch dieses Loch fiel Tageslicht. Das untere Ende der Treppe führte durch eine andere Lücke im Boden in die Tiefe. Reiko umklammerte den Dolch und spähte durch das Loch nach unten auf die Treppe, die sich zickzackförmig in die Tiefe schlängelte. Einen kurzen Moment blieb sie stehen und horchte, hörte aber nur das Zwitschern der Vögel, das Plätschern des Wassers und das Rauschen des Windes.
Reiko lief die Treppe hinunter.
Lose, verzogene Holzbretter schwankten unter ihren Füßen. Reiko sprang über Löcher, die vermoderte Stufen hinterlassen hatten. Der Geruch von kaltem Rauch und verfaultem Holz wurde stärker. Sie durchquerte einen zweiten Raum, der dem ersten ähnelte. Als Reiko den nächsten Treppenabsatz hinunterstieg, musste sie sich zwingen, vorsichtig und achtsam zu sein, denn ihr Verlangen, dieses Gefängnis schnellstens hinter sich zu lassen, war übermächtig. Am Ende der Treppe verlangsamte sie ihre Schritte und stieg zögernd die letzten Stufen zum
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