Der Palast
begeistert und feuerten ihn johlend an.
»Nein!« Reiko warf den Kopf hin und her und versuchte verzweifelt, ihren Peiniger abzuschütteln. »Lasst mich los! Hilfe! Hilfe!« Reikos wahnsinnige Angst verwandelte ihre Schreie in ein hysterisches Krächzen.
Das hässliche, grinsende Gesicht des Anführers verdeckte den Himmel. Plötzlich durchdrang eine Stimme den wilden Lärm. »Hört auf!«
Das Grölen und Lachen verstummte. In der jäh einsetzenden Stille war das Rauschen des Windes zu hören. Die Donnerschläge des Unwetters näherten sich. Der Samurai, der auf Reiko lag, drehte den Kopf zur Seite; die Begierde in seinen Augen wich einem Ausdruck tiefer Verwirrung. Reiko lag wie erstarrt am Boden; sie wusste nicht, was jetzt geschehen würde.
»Steig von ihr herunter, wird’s bald?«, befahl die Stimme. Sie war tief, schroff und wütend. »Die anderen verschwinden!«
Erleichterung und Dankbarkeit durchströmten Reiko, als der Samurai von ihr herunterstieg. Die Gruppe der Gaffer löste sich auf. Vorsichtig stützte Reiko sich auf einen Ellbogen und beobachtete ihre Peiniger, die vor dem Hauptgebäude standen und Haltung angenommen hatten. Reiko folgte ihren Blicken. Auf der Veranda stand ein Mann. Die Schatten unter den Dachvorsprüngen tauchten ihn in Dunkelheit. Alles, was Reiko erkennen konnte, waren sein rasierter Scheitel und die zwei Schwerter eines Samurai. Eine neuerliche Woge der Angst vertrieb ihre Erleichterung.
Dieser Mann hatte sie gerettet, doch sein herrisches Auftreten und die Hast, mit der die anderen Männer seinen Befehlen gefolgt waren, legten die Vermutung nahe, dass dies der Anführer der Verbrecherbande war. Dieser Samurai musste das Massaker und die Entführungen befohlen haben.
Jetzt stieg er die Stufen der Veranda hinab und schritt über den Hof auf Reiko zu. Seine gemächlichen, zugleich festen Schritte offenbarten den Stolz eines Samurai. Sein Kopf wirkte zu groß für seinen untersetzten Körper, der in schwarze Kleidung gehüllt war. Auf den Schoß seines Kimonos war ein Feuer speiender Drache aus Brokatstoff aufgenäht. Seine goldenen Krallen und der smaragdgrüne, geschuppte Körper bewegten sich beim Gehen. Reiko stand mühsam auf und zog den Unterrock um ihren Körper. Ungeschützt und doch fest entschlossen, dem Feind mutig gegenüberzutreten, warf sie das Haar zurück, das ihr ins Gesicht gefallen war, und blickte dem Samurai in die Augen.
Er blieb stehen, verharrte regungslos und schaute auf Reiko hinunter. Sie sah, dass er jünger war, als seine Stimme hatte vermuten lassen – vielleicht Ende zwanzig. Unter der zerfurchten Stirn und den schrägen, dunklen Brauen lagen seine funkelnden Augen in tiefen Höhlen. Er hatte eine breite, markante Nase und ein fliehendes Kinn. Die Nasenflügel bebten wie die des Drachen auf seinem Kimono. Seine geschürzten Lippen jedoch waren weich und feucht. Reiko erkannte in seinen Augen die Bewunderung, die ihre Schönheit auch bei anderen Männern erregte. Doch der Samurai betrachtete sie zugleich mit einem Ausdruck der Verwunderung, als würde er sie wiedererkennen und seinen Augen nicht trauen. Reiko aber kannte den Mann nicht. Für sie war er ein völlig Fremder.
»Seid Ihr verletzt?«, fragte der Mann. Sein Blick wanderte über ihren Körper und blieb auf ihrem Gesicht haften.
Reiko, der dieser forschende Blick Unbehagen bereitete, wandte sich ab. »Nein«, flüsterte sie.
Der Mann trat näher an sie heran und streckte langsam eine Hand aus, als wollte er ihr Haar berühren. Aus den Augenwinkeln sah Reiko seinen schmachtenden Blick und spürte den warmen Atem, der aus seinem feuchten Mund strömte. Sie zuckte zusammen. Der Samurai ließ den Arm sinken und trat zurück.
»Sie werden Euch nichts antun«, erklärte er barsch – offenbar mit der Absicht, seinen Männern einen Befehl zu erteilen und gleichzeitig Reiko zu beruhigen.
Doch Reikos schreckliche Angst erwachte aufs Neue. Selbst wenn die Männer ihr nichts antun würden – wie sah es mit dem Anführer aus? Sein eigentümliches Verhalten jagte kalte Schauer über ihren Rücken.
Der Samurai beugte sich hinab und hob ihren Kimono von der Erde auf. Er schritt um sie herum, und Reiko, die mit großen Augen und zitternd vor ihm stand, fragte sich, was er tun würde. Sie hatte Angst, den Fremden anzusehen. Sekunden später legte er sanft den Kimono über ihre Schultern und drückte ihr die Schärpe in die Hand. Reiko spürte die Wärme seines Körpers, als er dicht hinter ihr
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