Der Palast
stand und sie die Schärpe um ihre Taille band. Sie schauderte, und Übelkeit stieg in ihr auf, denn die Berührungen durch diesen Fremden stießen sie stärker ab als die Brutalität seiner Männer.
»Bringt sie zurück ins Verlies«, befahl er ihnen.
Zwei Samurai schritten auf Reiko zu. Einer von ihnen war der Mann, den sie verwundet hatte. Trotz des Befehls seines Herrn packte er brutal ihren Arm, als wollte er sich auf diese Weise rächen. Als die beiden Männer sie zu dem Pfad führten, der in den Wald geschlagen worden war, blickte Reiko sich zu dem Anführer um. Er stand mit verschränkten Armen vor seinem verfallenen Palast und beobachtete sie mit düsterer, nachdenklicher Miene. Der Wind strich über seine Kleidung und hauchte dem Drachen Leben ein.
Wer war dieser Mann? Was war der Grund für das Massaker und die Entführungen? Die dämonische Aura, die den Unbekannten umgab, flößte Reiko entsetzliche Angst ein. Welches Schicksal hatte dieser Mann für sie vorgesehen?
15.
H
irata und die Ermittler Marume und Fukida ritten über den hügeligen Abschnitt der Fernstraße, der nach Hakone führte, der elften Kontrollstation an der Tōkaidō. Die Höhenluft war zu dieser frühen Stunde kühl. Das schwache, silberne Licht der Sonne drang durch die Wolkendecke, während Nebel die Luft durchsetzte und die bewaldeten Hänge in einen feinen Schleier hüllte. Die Gipfel der fernen Berge zeichneten sich am Horizont ab. Ein Tor, das von Tokugawa-Soldaten bewacht wurde, versperrte vor ihnen die Straße. Hinter dem Tor erblickte Hirata die rustikalen Gebäude von Hakone.
»Hoffentlich haben wir heute mehr Glück als gestern Abend«, sagte er zu seinen Kollegen.
Die vergangene Nacht hatten sie in Odawara verbracht, der zehnten Kontrollstation an der Tōkaidō. Sie waren in den Läden gewesen, hatten in sämtlichen Teehäusern etwas getrunken, hatten jedes Wirtshaus besucht, mit den Bewohnern Bekanntschaft geknüpft und die Gespräche immer wieder auf die Entführung gelenkt. Obwohl viele Menschen sich daran erinnerten, Fürstin Keisho-ins Pilgerzug vor der Entführung gesehen zu haben, lieferte niemand den geringsten Hinweis, was mit den Frauen geschehen sein könnte. Überdies hatten Hirata und seine Ermittler keine Spuren der Entführer gefunden. Hirata hatte drei betrunkene Beamte der Stadt überredet, ihm die Reiseprotokolle der Kontrollstation zu zeigen. Auf der Liste tauchte keine Männergruppe auf, die groß genug gewesen wäre, um Keisho-ins Gefolge niederzumetzeln. Hirata nahm an, dass die Entführer getrennt gereist waren, um keine Aufmerksamkeit zu erregen. Überdies hatten sie vermutlich unterschiedliche Richtungen angegeben, als die Inspektoren sie nach ihren Reisezielen gefragt hatten, und sich dann am Ort des Hinterhalts getroffen. Hirata hatte die Listen vergebens nach Gefolgsleuten Fürst Nius durchgesehen. Wenn Fürst Niu Truppen geschickt hatte, um den Hinterhalt zu legen, könnten die Täter natürlich auch unter falschen Namen gereist sein.
Doch Hirata kamen zum ersten Mal Zweifel, dass sein Schwiegervater hinter dem Verbrechen stecken könnte. Er hätte zu gern gewusst, was Sanos Ermittlungen im fernen Edo ergeben hatten.
Der oberste Gefolgsmann des sōsakan-sama kämpfte gegen seine Enttäuschung, Angst und Müdigkeit an. Die Anstrengungen des Vortags forderten ihren Preis. Nach dem langen Ritt von Edo waren Hirata und seine Leute durch die Wälder gestreift, und in der letzten Nacht hatten sie nur wenige Stunden geschlafen. Zudem machte Hirata seine starke Erkältung zu schaffen: die verstopfte Nase, der wunde Hals und die Kopfschmerzen. Auch Fukidas schmales, ernstes Gesicht war von tiefer Erschöpfung gezeichnet. Sogar der kräftige Marume verlor seine gute Laune, als sie die Kontrollstation in Hakone erreichten, ein strohgedecktes Gebäude am Straßenrand.
»Seht euch die Warteschlange an!«, rief Marume.
Etwa fünfzig Reisende warteten zwischen ihrem Gepäck in einer Reihe vor dem Kontrollposten. Drinnen saßen Inspektoren, die die Reisenden registrierten, ihre Dokumente überprüften und ihr Gepäck nach versteckten Waffen und anderen Schmuggelwaren durchsuchten, bevor ihnen die Weiterreise gestattet oder verweigert wurde. Hakone war berühmt und berüchtigt für seine peinlich genauen Inspektionen, was eine lange Wartezeit mit sich brachte, ehe Hirata und seine Ermittler ins Dorf reiten und ihre Befragungen durchführen konnten. Sie konnten sich nicht vordrängeln, weil sie dann
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