Der Palast
Dieses untersagte nämlich Gefährte jeder Art auf der Tōkaidō – Wagen, Karren, Kutschen – damit keine Truppen behindert und Aufstände gar nicht erst möglich gemacht wurden. Deshalb mussten Lasten per Hand getragen werden. Wahrscheinlich hatten die Entführer die Frauen gefesselt, geknebelt, vermutlich mit Drogen betäubt und dann in deren eigenen Gepäckstücken untergebracht. Die Offiziere der Fernstraßen-Patrouille, die den Tatort nach dem Massaker untersucht hatten, konnten nicht feststellen, ob Truhen gestohlen worden waren, weil das untersuchte Gepäck an den Kontrollstationen nicht protokolliert wurde. Hirata vermutete, dass die Entführer die Truhen vom Tatort über die Fernstraße getragen hatten. Weil das Verbrechen noch nicht entdeckt worden war, konnten sie sich als normale Reisende ausgeben. In Hakone hatten die Entführer dann die Träger angeheuert, weil sie die schweren Gepäckstücke nicht alleine transportieren konnten, wenn sie die Gegend schnell hinter sich lassen wollten.
»Am Nachmittag sind wir hier aufgebrochen, und erst nach Sonnenuntergang haben wir an einer Kreuzung gehalten«, fuhr Goro fort. »Da stand ein Jizo-Schrein. Die Samurai haben uns entlohnt, und wir ließen sie mit den Truhen zurück und sind zurück nach Hakone.«
Nun wusste Hirata, welchen Weg die Entführer mit Midori und den anderen Frauen genommen hatten. »Aber wie haben die Samurai es geschafft, mit den Truhen durch die Kontrollstation zu kommen?«, fragte er.
»Die Samurai trugen Tokugawa-Wappen und reisten mit Tokugawa-Pässen«, erwiderte Goro. »Sie durften die Kontrollstation passieren, ohne überprüft zu werden.«
Hirata, Marume und Fukida wechselten beunruhigte Blicke. Waren bakufu- Beamte in die Entführung verwickelt? Doch Hirata ging eher davon aus, dass die Entführer die Kleidung und Dokumente der Soldaten gestohlen hatten, die bei dem Massaker getötet worden waren.
»Wer waren diese Samurai?«, fragte Hirata, an Goro gewandt.
»Das haben sie uns nicht gesagt«, entgegnete Goro.
»Wie viele waren es?«
»Zwölf.«
»Wie sahen sie aus?«
»Ich konnte ihre Gesichter nicht richtig erkennen, weil sie Helme mit Visieren getragen haben.«
Die Entführer hatten also dafür gesorgt, dass ihre gemieteten Hilfskräfte sie nicht identifizieren konnten. Auf Hiratas Frage nach Einzelheiten über die Männer konnte Goro wenig sagen, und er hatte auch nicht gehört, was sie untereinander gesprochen hatten. Die Männer, die ihn begleitet hatten, waren wieder als Träger engagiert worden und standen daher für eine Vernehmung nicht zur Verfügung.
»Habt Ihr der Obrigkeit berichtet, was Ihr mir soeben gesagt habt?«, fragte Hirata.
Goro schüttelte den Kopf. »Als die Samurai mich eingestellt haben, wusste ich nicht, dass die Mutter des Shōgun entführt worden war. Und als ich von der Entführung der anderen Damen erfuhr …« Ein schüchternes Grinsen legte sich auf Goros Narbengesicht, und er ließ die Münzen in seinem Geldbeutel klimpern. »Ich beschloss, auf eine Gelegenheit zu warten, ein bisschen Profit aus den Informationen zu schlagen.«
Die Gier des Trägers erzürnte Hirata, doch er hatte weder die Zeit noch die Energie, Goro zu bestrafen oder darüber nachzudenken, was geschehen wäre, hätte Goro die Informationen sofort preisgegeben, anstatt sie zunächst für sich zu behalten. Die drei Ermittler verließen das Lager, holten ihre Pferde und reihten sich in die Warteschlange vor der Kontrollstation ein.
»Sobald wir die Station passiert haben«, sagte Hirata, »brechen wir nach Izu auf.«
Polizeikommandeur Hoshina war in einen Wachturm auf der Festungsmauer gesperrt worden, die den Palast vom Wald trennte. Der Turm hatte weiß getünchte Wände mit schwarzen Balken, auf allen vier Seiten vergitterte Fenster und ein Ziegeldach. Auf dem Wehrgang standen Posten und bewachten die Türen auf beiden Seiten des Turms.
Sano näherte sich dem Tor, das ebenfalls bewacht wurde. Die Eichen, Koniferen und Ahornbäume in dem Waldstück hinter dem Turm ragten in den trüben Himmel. Heuschrecken zirpten in der heißen, feuchten Luft, als Sano die Stufen zu dem provisorischen Gefängnis hinaufstieg.
Obwohl Samurai, die auf eine Hinrichtung warteten, normalerweise in ihrem eigenen Haus unter Arrest gestellt wurden, war Hoshina, der in der Villa Yanagisawas lebte, in diesem Turm inhaftiert worden, weil der Kammerherr sich weigerte, ihn weiter bei sich zu beherbergen. Verurteilte wurden in der Regel
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