Der Paradies-Trick (Kindle Single) (German Edition)
der Legende, die sie lebte, war auch dieser so abgesichert, maßgeschneidert und sorgfältig einstudiert, dass ihr die Legende realer vorkam als ihre echte Kindheit, an die sie sich verzerrt und unscharf erinnerte wie an einen unterbrochenen Traum. »Also kann ich mir nur vorstellen, was Ihre Familie durchgemacht hat.«
»Vorstellen? Aber Sie wissen es.«
»Ja, gut. Aber zwei Kinder statt einem, und eine vorsätzliche Tötung – Mord, um genau zu sein, kein Unfall. Ihre Eltern … Ich weiß nicht, wie man so etwas überleben kann. Meine waren nie wieder so wie vorher.«
Sie hätte weiterbohren und das Thema auf ihren Bruder Imran lenken können und was aus ihm geworden war. Aber damit hätte sie vielleicht Alarmglocken schrillen lassen. Außerdem bestand kein Grund zur Eile.
Irgendwann bestellten sie sich Sandwiches. In den Stunden, während sie geredet hatten, hatte die gesamte Kundschaft gewechselt. Möglicherweise ließ Fatima Delilah beobachten – von ausreichend vielen Leuten, dass sie sich abwechseln und unauffällig bleiben konnten. Oder jemand wartete draußen, um sich an Delilah zu hängen, wenn sie ging. Aber sie bezweifelte es. Vielleicht hatte Fatima gar keine Aufpasser, oder sie duldete sie nicht um sich. Egal, Delilahs Gefühl nach war sie bisher auf keinem Radarschirm aufgetaucht.
Nachdem sie drei Espressos intus hatte – Fatima also mindestens vier –, sagte Delilah: »Ich komme mir sehr unprofessionell vor. Die Hälfte der Zeit vergesse ich ganz, dass ich Sie interviewen soll. Und wir haben noch gar keine Fotos gemacht.«
Fatima lachte. »Das ist schon in Ordnung. Ich war heute Morgen sowieso nicht richtig zum Schreiben aufgelegt, und es war sehr nett, mit Ihnen zu reden.«
»Mit Ihnen auch. Hören Sie, ich wollte Ihnen nicht so viel von Ihrer Zeit stehlen, aber … Ich habe das Gefühl, für die Art Artikel, die ich mir vorstelle, haben wir wirklich erst an der Oberfläche gekratzt. Ich muss zurück in meine Wohnung und die wichtigen Teile niederschreiben, solange sie noch frisch im Gedächtnis sind. Besonders weil ich unsere Unterhaltung so genossen habe, dass ich ganz vergessen habe, mir Notizen zu machen. Deshalb … ob wir uns später in der Woche vielleicht noch einmal treffen könnten?«
Fatima lächelte das Lächeln, das für Delilah langsam zu ihrem Markenzeichen wurde – strahlend und doch durchdrungen von einem seltsamen Anflug von Traurigkeit. »Das wäre mir ein Vergnügen.«
»Wunderbar. Vielleicht irgendwo anders. An einem Ort … der widerspiegelt, wer Sie sind und wofür Sie stehen?«
Fatima hob ihre Espressotasse und trank die letzten paar Tropfen aus. Sie setzte sie ab und rieb sich das Kinn. »Mögen Sie Shisha?«
»Sie meinen … so etwas wie Hookah?«
»Das ist ein und dasselbe. Es ist eines meiner Laster. Sehr populär in Pakistan. Es gibt da ein Café, wo ich gern hingehe – das Momtaz in Maida Vale. Recht authentisch, und es hat sogar einen großen Raum nur für Frauen. Ich fürchte, wenn das Stammpublikum Sie und Ihre blonden Haare zu sehen bekommt …« Sie lächelte. »Ohne den separaten Raum hätten wir keine Ruhe.«
Delilah erwiderte das Lächeln. »Ich bezweifle, dass sie nur auf mich scharf wären, aber ja, das klingt hübsch.«
»Morgen Abend? Acht Uhr? Wenn Sie bis dahin noch nicht gegessen haben, sie kochen dort hervorragende Libanesisch.«
»Klingt großartig.«
»Es liegt in der Chippenham Road. Es ist leicht im Internet zu finden, aber wenn Sie Schwierigkeiten haben, rufen Sie mich einfach an.«
Delilah stand auf und schlang sich die Kamera über die Schulter. »Haben Sie noch ein paar Minuten Zeit? Vielleicht finden wir draußen eine schöne Stelle, mit dem Notes oder einem trendigen Ausschnitt Londons als Hintergrund. Wäre ein hübscher Kontrast zu dem Shisha-Café morgen. Hm, ich weiß nicht, vielleicht wird der Artikel heißen ›Fatima, Frau der zwei Welten‹.«
Delilah hatte den Kommentar scherzhaft gemeint, und Fatima lachte auch darüber – aber es war ein unbehagliches Lachen, fand Delilah. Gut, die Frau gehörte ja tatsächlich zwei Welten an, wenn auch nicht den beiden, auf die Delilah sich anscheinend bezog. Und vielleicht gab es daran etwas, das ihr selbst nicht ganz gefiel. Delilah konnte das unschwer nachvollziehen.
Während der zwanzig Minuten, die sie mit Fotoaufnahmen verbrachten, kamen eine ganze Menge Passanten vorbei. Den meisten sah man deutlich an, dass sie Delilah und Fatima wegen ihres guten Aussehens und der
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