Der Pate von Bombay
Menschentrauben und den Wachen vorbei durch das hohe Tor mit dem bogenförmigen Schild darüber, dann stolperte er zwischen geschäftigen Passanten, vorbeirauschenden Autos und räudigen Hunden die Straße entlang. An der Ecke blieb er blinzelnd stehen. Er wußte nicht mehr, wo er war. Er sah sich nach Laden- und Straßenschildern um und merkte plötzlich, daß er eine verkehrsreiche Straße überquert hatte. Sie war breit wie ein schwarzer Fluß, und unentwegt strudelte die hungrige Flut der Fahrzeuge vorüber. Wie er wohlbehalten hierhergekommen war, wußte er nicht, aber nun war er da. Sein Mund war schmerzhaft trocken, doch er wollte nichts trinken. Er wollte nur wieder an die Arbeit. In der Ferne sah er einen Fußgängerüberweg mit einer orange und grün, grün und orange aufleuchtenden Ampel. Sartaj ging zum Revier zurück.
Am Donnerstag brach Sartaj früh auf. Er wolle bei Ma alles vorbereiten, sagte er sich, er wolle in der Morgenkühle fahren. Aber er hatte nicht schlafen können, und am Ende war es ihm leichter gefallen, aufzustehen und loszufahren, als sich in den verschwitzten Laken hin und her zu wälzen. Es tat gut, in den Bergen zu sein, sich die kurvige alte Straße entlangzuwinden. Wenn er schnell und riskant fuhr, verdrängte die Gefahr alles andere aus seinem Kopf, und so donnerte er durch Matheran und Khandala, und nur ein leises Summen der Erinnerung folgte ihm, Megha, Collegepicknicks, ein runder Hügel, den er hinaufstieg. Dann war er in Pune, und es gab nicht mehr zu tun, als nach Hause zu gehen, zu Ma.
Sie saß, von mehreren offenen Koffern umgeben, im Wohnzimmer. »Sieh dir diese alten Pullover an«, sagte sie zu Sartaj. »Die hatte ich völlig vergessen.«
Sartaj beugte sich zu ihr hinab. »Peri pauna, Ma.« Er klappte den ramponierten Deckel eines schwarzen Koffers zu und setzte sich darauf, die Waden am fast verblaßten Schablonenschriftzug von Papa-jis vollem Namen. »Was machst du da?«
»Es sind viel zu viele Sachen hier im Haus, Beta. Wenn du sie auch nicht willst, wozu soll ich sie dann aufheben?«
Seit Papa-jis Tod mistete sie zweimal im Jahr gründlich aus. Persönliche Dinge und Haushaltsgegenstände hatte sie an Cousins und Cousinen, Onkel, Tanten, Dienstboten, Nachbarn und Bettler verteilt. Sartaj war manchmal darüber erschrocken, wie radikal sie war, wie leicht sie sich von alten Stühlen, Spazierstöcken und blauen Blazern trennte. Nur alte Fotografien und Briefe waren bisher verschont geblieben, aber vielleicht würden diesmal auch sie verschwinden. Neben ihr auf dem Boden lag ein altes Foto in einem geschwärzten silbernen Rahmen. Sartaj kannte es, solange er zurückdenken konnte. Ma hatte es in ihrem Schrank verwahrt, bei ihren Dupattas, wo sie es jeden Morgen sah. Er hob es auf, und da war sie wieder, in ewig blühender Jugend: Mas vermißte Schwester. Sie war schön, sie warf lachend ihr pechschwarzes Haar über die Schulter zurück, während sie sich zur Kamera drehte, und ihr Körper neigte sich in einem straffen Bogen zum fernen Horizont. Sartaj kannte das Bild bis ins kleinste Detail, und er wußte, daß sie Navneet hieß, mehr aber nicht. Ma hatte nie gern von ihr gesprochen. Jetzt würde die schöne Navneet vielleicht ebenfalls verschwinden. Sartaj mochte diese langsame Erosion des Zuhauses nicht, an das er sich erinnerte, das er in sich trug. Manchmal machte es ihm angst, wenn er nach Pune kam und wieder ein paar Sachen weg waren. Irgendwann, dachte er, werden nur noch die weißen Wände übrig sein. Und dann nicht einmal mehr sie.
Aber er konnte nichts dagegen tun. Über Freigebigkeit konnte man nicht streiten. Und Ma hatte mit zunehmendem Alter auch zunehmend ihren eigenen Kopf. Sie machte, was sie wollte. »Ja, Ma. Du hast recht. Aber willst du die Strickjacke da wirklich weggeben? Die hast du doch so gern getragen.«
Sie hielt eine grüne Jacke an den Schultern hoch und fuhr mit dem Finger über die rote Blumenborte. »Wann brauch ich die schon? Die Leute hier in Maharashtra gehen im Dezember in dicken Mänteln auf die Straße, und mir kommt's gar nicht wie Winter vor.« Sie hielt große Stücke auf ihre nordindische Vorliebe für niedrige Temperaturen und ihre Punjabi-Widerstandsfähigkeit.
»Wenn wir nach Amritsar fahren«, sagte Sartaj, »brauchst du sie vielleicht.«
»Wann? Seit Monaten redest du davon, Beta.«
»Bald, Ma. Versprochen.«
Sie schien nicht allzu überzeugt, legte die grüne Strickjacke aber auf den kleinen Stapel der Sachen,
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