Der Pestengel von Freiburg
Kirchenschaffner, als Geschäfts- und Rechnungsführer verantwortlich für den Bau, ihm ins Gewissen geredet, dann hatten mit lautem Gebrüll die Herren Kirchenpfleger auf ihre Autorität als Vertreter der städtischen Bauherrschaft gepocht. Meister Johannes indessen war ungerührt bei seinem Beschluss geblieben: Er und seine Mannen seien freie Handwerker und nicht Sklaven der Stadt Freiburg. Sowenig wie sie im Kriegsfall die Mauern der Stadt zu verteidigen hätten, so wenig müssten sie sich der tödlichen Gefahr einer Pestilenz aussetzen. Man möge sich bis auf bessere Zeiten gedulden oder sich nach einem neuen Meister umsehen.
Der Festakt zur Einweihung der Chortürme war damit selbstredend hinfällig geworden, und kurz darauf beschloss der Rat, auch Kirchweih und Schützenfest abzusagen. Stattdessen waren, wie schon im vergangenen Herbst, als die Seuche daschristliche Abendland erreicht hatte, die Bürger angehalten, jeden Morgen und jeden Abend zu beten. Zudem ordnete man sieben Buß- und Fastentage an, mit täglichen Bittprozessionen um die Stadt, an deren Abschluss ein jeder aufgerufen war, öffentlich von der Kirchenkanzel seine Sünden zu bekennen. Die Menschen drängten ins Gotteshaus, schon allein, weil niemand sich entgehen lassen wollte, wie die Nachbarin oder der eigene Dienstherr unter Tränen bekannte, gegen Gott geflucht, den eigenen Bruder verleumdet oder den Handelsgenossen betrogen zu haben. Um anschließend Penitenz zu tun, die darin bestand, mit ausgestreckten Armen eine brennende Zweipfünderkerze in jeder Hand zu halten, bis die Messe vorüber war.
Benedikt selbst nahm weder an den Prozessionen noch an den Messen teil. Sein Unbehagen an dieser Art Gottesdienst hatte sich zu einem regelrechten Widerwillen gesteigert. Er verstand plötzlich die Begeisterung der Menschen für die Geißler, die in ihrer eigenen Sprache zum Volk redeten. Kaum jemand vermochte doch den lateinischen Gebeten und Wechselgesängen der Priester zu folgen! Während die Pfarrer und Ministranten im Altarraum ihre heilige Messe zelebrierten, stand das Volk im Kirchenschiff und betete bestenfalls seine eigenen Gebete. Viel häufiger indessen schwatzte man mit dem Nachbarn oder schloss Geschäfte ab. Da war keine Verbundenheit im Glauben, kein Mitfeiern an den heiligen Ritualen der Priester. «Herrenkirche» nannte man hier den Chorraum und «Leutekirche» das Kirchenschiff, streng getrennt durch den hohen Lettner – allein dies verhinderte doch bereits eine echte Gemeinschaft der Gläubigen!
Einmal hatte Benedikt den Pfarrer darauf angesprochen und gefragt, warum man den Dienst an Gott in einer Sprache abhalte, die kaum einer verstehe. Pfarrer Cunrat hatte ihn nurverwundert angesehen: Was er da nur rede! Bei gegebenem Anlass würde man einen Teil der Schriftlesung fürs Volk sehr wohl in deutscher Sprache vortragen. Ansonsten möge sich der gemeine Mann darauf beschränken, die Messe mit Andacht zu hören, ganz wie es von ihm verlangt werde. Seither besuchte Benedikt die heilige Messe nur noch an den hohen Feiertagen.
Als er jetzt an den erloschenen Feuerstellen der Hüttenschmiede vorüberging, hörte er aus dem Kircheninnern liturgische Gesänge. Die morgendliche Prozession fand gerade ihren Abschluss. Benedikt ließ sich auf einem Steinquader nieder und wartete. Sobald das Gotteshaus wieder leer und still war, wollte er es zum Gebet aufsuchen. Würde sich vor dem Kreuzaltar niederlegen und Gott um Hilfe und Schonung für seine Familie bitten. Und hernach vielleicht mit Esther sprechen können.
Voller Erwartung und mit klopfendem Herzen machte er sich mittlerweile zu diesen seltenen Gebetsstunden auf, wie ein Bräutigam, der sich mit seiner Liebsten traf. Doch nicht immer begegnete er ihr, denn das Ganze war nicht willentlich herbeizuführen.
Benedikt schloss die Augen, lauschte den Chorälen, in denen sich die hellen Knabenstimmen deutlich abhoben, und dachte an den vergangenen Sonntag. Das Gespräch mit seiner Mutter hatte ihn sehr erleichtert. Es hatte so gutgetan, sich wieder als Kind fühlen zu dürfen, geborgen im Schoß der Mutter. Endlich war wieder alles gut zwischen ihnen. Am selben Abend noch hatte er seinen Vater aufgesucht. Einsam und blass hatte der in der Küche vor seinem Topf Milchbrei gesessen, und eine Welle von Mitleid hatte Benedikt erfasst, die ihm schier die Tränen in die Augen trieb. Er hatte ihm von seinem Besuch im Wald berichtet und von seinem Einfall, Daniel hinaufzuschicken.Wie erwartet,
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