Der Peststurm
wieder ein paar entwürdigende und schmerzhafte Tritte in die Magengrube.
»Steh’ auf, du fauler Sack!«
Noch bevor Lodewig sich aufraffen konnte, warf Ruland Berging den Strick über seine Schulter und schleifte sein hilfloses Opfer zuerst über eine ungemähte Wiese, dann über den mit Geröll und Steinen übersäten Weg hinter sich her. Die durch den teilweise scharfkantigen Boden und das raue Holz der Brücke ausgelösten höllischen Schmerzen gaben Lodewig die Kraft, sich aufzurichten und wieder hinter seinem Peiniger herzuschlurfen.
Noch bevor sie die Brücke hinter sich hatten und den Pestfriedhof sahen, schlug ihnen schon der schreckliche Geruch des Todes entgegen.
»So stinkst du auch bald«, kommentierte Ruland Berging die Szenerie, während er einen großen Schlüssel aus der Tasche zog und Lodewig zielstrebig zur Kapelle zerrte.
»Das hier wird dein letztes Zuhause sein!«
Das hässliche Lachen des Unholdes prallte zwar an den Kapellenwänden ab, nicht aber an Lodewig. Der lag jetzt eingeschüchtert im Mittelgang und musste hilflos zusehen, wie es der Schwarzgewandete genoss, das kommende Martyrium vorzubereiten. In aller Ruhe inspizierte Ruland Berging die Fenster, die sich zu beiden Seiten des Chorraumes befanden. Dabei erregten die zwei großen, etwas seitlich davor angebrachten Holzfiguren seine Aufmerksamkeit. Lange stand er nachdenklich im Kirchenschiff und packte dann, hämisch grinsend, sein Werkzeug aus. Er stieg auf die linksseitige Altarbank, die der gräflichen Familie Platz böte, falls diese irgendwann einen Gottesdienst in der Weißacher Kapelle besuchen sollte.
Direkt darüber hing eine Holzfigur jenes Wunderheilers, von dem eine Legende besagte, dass er im frühen 14. Jahrhundert Pestkranke allein durch das Kreuzzeichen hatte gesunden lassen, bis er schließlich selbst an der Pest erkrankt und durch seinen Enkel gesund gepflegt worden war. Die nahezu perfekte Schönheit des Heiligen Rochus von Montpellier fiel dem Totengräber aber nicht auf. Er riss die Figur vom Sockel und warf sie mit aller Wucht zu Boden. Krachend landete die laut Propst Johannes Glatt von Tilman Riemenschneider geschnitzte Statue auf dem Boden und zerbarst in etliche Teile. Dem gottlosen Kirchenschänder war dies im Moment unbezähmbaren Zorns gleichgültig. Es würde ihn erst viel später reuen, die beiden wertvollen Figuren nicht mitgenommen und gewinnbringend verscherbelt zu haben. In diesem Augenblick wollte er nur an die Halterung des Figurensockels herankommen, koste es, was es wolle. Dies konnte ihm aber nur gelingen, indem er auch das mit barocken Schnecken verzierte und vergoldete Holzteil unbrauchbar machen, aus der Wand reißen und ebenfalls auf den Boden werfen würde. Als er den schweren Sockel von der Wand genommen hatte, stellte er erfreut fest, dass der schmiedeeiserne Haken viel mehr an Gewicht zu tragen vermochte als die – aus seiner momentanen Sicht völlig unnütze – Holzfigur.
In seiner ohnmächtigen Wut auf die Kastellansfamilie und der hinter ihm liegenden monatelangen Angst, von Lodewig verraten zu werden, drohte er, nicht mehr Herr seiner Sinne zu sein. Deswegen war es ihm unmöglich, rationale Gedanken zu fassen. So war er nicht darauf gekommen, die Heiligenfiguren vorsichtig herunterzunehmen und einzuwickeln, um sie später dem Bunten Jakob zu verkaufen. Er hatte Lodewig in seiner Gewalt und nur das zählte. Zufrieden schob er die herrschaftliche Kirchenbank am Altar vorbei zur anderen Seite des Schiffs und beging an demjenigen Patron, der den Leichenträgern und somit auch ihm selbst Schutz gewährte, den gleichen Frevel wie zuvor am Heiligen Rochus. Dieses Mal traf es die Figur des Heiligen Sebastian, die krachend zu Boden fiel. Während der Christenverfolgung gegen Ende des dritten Jahrhunderts hatte der Soldat Sebastian ein ähnliches Martyrium erleiden müssen, wie es Lodewig noch bevorstand – nur mit dem Unterschied, dass dem mittleren Spross der Dreylings von Wagrain keine Heiligsprechung winken dürfte, auch nicht posthum. Kaiser Diokletian hatte den jungen Soldaten Sebastian an einen Baum binden und von Pfeilen durchbohren lassen.
Auch nicht schlecht, dachte der Totengräber bei genauerer Betrachtung der Holzfigur, die er kurz aufhob – aber nur, um sie mit aller Kraft gegen die Kapellentür zu donnern.
Vor Lodewig lagen nun die Trümmer der vielleicht einzigen Kunstwerke, die Meister Riemenschneider nach 1525 geschaffen hatte. Lodewig wusste von seinem
Weitere Kostenlose Bücher