Der Peststurm
Spund. Da mein Vater als gräflicher Büchsenmacher tätig war und ich ihm bei seiner Arbeit oftmals helfen musste, habe ich mich mit Waffen schon damals dementsprechend gut ausgekannt. Dies hat dem Freiherrn imponiert und ich habe als jüngster Teilnehmer beim ›Eröffnungsschießen‹ der neuen Schießanlage mitmachen dürfen – sozusagen als eine Art Glücksbringer für die erwachsenen Schützen. Ich erinnere mich noch heute daran, dass der hohe Herr damals einen 15 Zentner schweren Ochsen gestiftet hat.«
»Und? Hast du den gewonnen?«, lästerte Rudolph, bekam aber die passende Antwort zurück.
»Natürlich nicht! – Zumindest nicht allein. Ich habe mich zwar nur beim ›Höheren Gesindeschießen‹ beteiligt, für meinen Blattschuss jedoch trotzdem so viel Ochsenfleisch, von dem meine Familie eine Woche lang satt geworden ist, bekommen. Den Hauptteil des Tieres haben die Sieger des ›Großen Fahnenschießens‹ erhalten. Während der Gesamtsieger auch noch eine wertvolle Fahne mit dem Allianzwappen des Landesherrn und seiner Gemahlin auf der einen Seite und einer Abbildung der Heiligen Muttergottes auf der anderen Seite mitnehmen durfte, wurden mir die rotgelben Bänder gegeben, die an den Hörnern des Ochsen angebracht waren.«
»Das ist ja wirklich alles hochinteressant, Siegbert. Aber wir sind nicht hier, um über alte Schützengepflogenheiten zu plaudern, sondern um Lodewig zu finden«, wollte Rudolph den Redeschwall seines ansonsten eher ruhigen und besonnenen Kameraden bremsen.
»Entschuldige, du hast ja recht. Aber wenn es ums Schießen geht, komme ich eben ins Schwärmen. Es wäre einfach zu schön, wenn die Staufner Schützenfeste irgendwann wieder fröhliche Urständ feiern würden.«
»Ja, ja! Alles schön und gut. Aber jetzt lass uns weiter unsere Aufgabe erfüllen.«
*
Zur selben Zeit suchten der Blaufärber und seine Frau den Ortskern ab. Sie klopften an jedes Haus und durchforsteten jeden Hof. Dabei kamen sie auch in jenen Hinterhof, in dem Lodewigs Probleme mit dem Totengräber begonnen hatten. Aber sie entdeckten nichts, nicht einmal die Holztonne, die tags zuvor noch vom Mönch und vom Kastellan gesehen worden war. Und wen wundert’s: Die Katze war auch nicht mehr da.
Die beiden hatten schon zu viel mitgemacht, um noch Angst vor der Pest zu haben. Dort, wo ihnen Eintritt gewährt wurde, fragten sie nach Lodewig. Bei der Gelegenheit stellten sie erfreut fest, dass in keinem der Häuser akute Pestfälle zu verzeichnen waren. Lediglich in drei Behausungen wurde ihnen der Zutritt verwehrt, und bei einem Haus war es ratsam, nicht einzutreten, weil dort – so wie es den Anschein hatte – die womöglich letzte Pestkranke lag. Die Besitzer derjenigen Häuser, die sie nicht betreten durften, hatten wohl andere Gründe für ihre ablehnende Haltung.
In der Propstei versuchten sie es erst gar nicht, da sie wussten, dass der Hausherr im Schloss war. Und dass im Erdgeschoss dieses Hauses gerade jemand damit beschäftigt war, in aller Eile seine Habseligkeiten zusammenzupacken, konnten sie nicht wissen, und es hätte ihnen auch nichts genützt: Der Totengräber hatte jetzt sowieso keine Zeit, um Fragen zu beantworten, auf die er ohnehin nicht reagiert hätte.
Kapitel 50
Es war gekommen, wie es hatte kommen müssen. Trotz seiner wilden Entschlossenheit und seines bewundernswerten Mutes zur Flucht hatte der schwer verletzte Lodewig den von vornherein aussichtslosen Kampf mit seinem Peiniger verloren und zusätzliche schmerzhafte Blessuren hinnehmen müssen. Dem Totengräber war es nicht schwergefallen, sich zu wehren und den Spieß sofort wieder umzudrehen, nachdem Lodewig aufgrund seines Überraschungsangriffs kurz die Oberhand gehabt hatte. Dabei hatte sich Ruland Berging wie ein Berserker aufgeführt und aus dem Halbbesinnungslosen fast noch den Rest des verbliebenen Lebens herausgeprügelt. Es hatte nicht lange gedauert, bis er nach einem kurzen Gerangel einmal mehr, und dieses Mal endgültig, Herr über sein hilfloses Opfer geworden war.
Danach hatte der Totengräber sein begonnenes Werk beendet. Er hatte Lodewigs Arme an den Haken, an denen zuvor die Sockel für die Pestheiligen Rochus und Sebastian angebracht gewesen waren, festgezurrt. Dazu musste er die Stricke zunächst über die Haken und den Rest des Hanfs, den er beim zünftigen Seiler August Biesle unweit des Staufenberges gekauft hatte, locker bis zum Boden hinunterhängen lassen. Er hatte ganz bewusst Stricke
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