Der Peststurm
weggeschmolzen war.
Diederich versuchte, mit einem Stock die hängengebliebenen Blätter zu lösen, um auch ihnen den Weg ins Ungewisse zu ebnen. Das leise gurgelnde Nass hingegen fand auch unter dem Eis seine Bahn. Je länger die Kinder auf die glitzernde Oberfläche schauten, umso mehr hatten sie das Gefühl, dass das Wasser immer schneller und schneller fließen würde. Bei längerem Hinsehen verlor es seine stoische Gemächlichkeit und bekam etwas Unheimliches. Es hatte fast den Anschein, als wenn es vor der kommenden Bedrohung und der damit einhergehenden blutroten Verfärbung fliehen wollte. Den Kindern war das egal. Sie machten sich keine Gedanken über die Zukunft, die sie sowieso nur ganz am Ende des Baches zu finden glaubten. Dort, wo der letzte Wassertropfen im Erdreich versickerte, war für die beiden die Unendlichkeit des Universums. Und dies musste nach ihrem Stand des Wissens gleich außerhalb des Dorfes sein.
»Komm, Lea«, verleitete Diederich das Mädchen dazu, dem Bachlauf zu folgen, um neben den Blättern herlaufen zu können. Da ihre Blicke konzentriert auf dem Wasser klebten, merkten sie nicht, dass sie sich schon ein ganzes Stück vom Haus entfernt hatten und aufmerksam beobachtet wurden.
Längst waren sie außer Sichtweite von Leas Elternhaus und hatten sogar schon die anderen Häuser hinter sich gelassen. Vor sich sahen sie in der Ferne nur einen kleinen Heustadel und ein Stückchen weiter ein Bauernhaus. Das musste der Platz sein, wo die Welt zu Ende war. Danach war weit und breit keine Behausung mehr zu sehen – nur kleine Waldinseln, einzelne Laubbäume und schier endlose gelbe Sumpfwiesen. Die Kinder wähnten sich allein auf weiter Flur, aber sie irrten: Während sie immer noch dem Bachlauf folgten, schlich sich eine unheimliche Gestalt von Baum zu Baum. Es war nicht schwer zu erraten, um wen es sich handelte. Wie es der Teufel wollte, war der Totengräber zufällig in der Nähe gewesen und hatte die Kleinen beim Spielen gesehen. Seither war ihnen die Unheil versprechende Gestalt auf Schritt und Tritt gefolgt.
Endlich, dachte das Narbengesicht, kann ich die vermurksten Morde an den Blaufärbersöhnen bereinigen und den ersten der beiden wahren Mitwisser meines Gesprächs mit dem Medicus beseitigen. Eigentlich schade, dass auch das Mädchen dran glauben muss. Aber ich kann keine Zeugin gebrauchen – außerdem ist es nur eine Jüdin, lenkte er seine menschenverachtenden Gedanken auf das, was er jetzt zu tun gedachte.
Er blickte sich immer wieder um, ob ihn auch niemand sehen würde, wenn er gleich zur Tat schreiten wollte. Obwohl er schon Otwards Lungen den lebensnotwendigen Sauerstoff versagt hatte und sie stattdessen mit dem Wasser des Entenpfuhls hatte füllen lassen, plante er, auch diese beiden wie einen Wurf junger Katzen zu ersäufen. Da er wusste, dass Otwards Leiche nicht identifiziert werden konnte und verbrannt worden war, machte er sich keine Sorgen darüber, dass die kleinen Wasserleichen mit der großen Leiche vom Entenpfuhl in Verbindung gebracht würden. Es würde so aussehen, als wenn das Mädchen in den kalten Bach gestürzt und der Junge beim Versuch, ihm zu helfen, ebenfalls ertrunken wäre.
Die Kinder konnten nicht ahnen, dass sie zufällig fast den gleichen Weg nahmen wie ein Weilchen zuvor ihre älteren Geschwister. Lodewig und Sarah hatte es auf dem ungefähr 250 Schritte parallel zum Bach verlaufenden Weg Richtung Genhofen zu ihrem geheimen Liebesnest gezogen. Für ihre Schäferstündchen diente ihnen ein Heustadel mit einem weit nach vorne gezogenen Dach. Der zwischendurch auch als Schaf- und Ziegenstall genutzte Stadel lag etwas abseits der Straße und versteckte sich hinter einer buschigen Wildrosenhecke und mehreren Baumgruppen. Fremde Reisende kannten diesen Stadel nicht. Nur die Einheimischen wussten um die ehemalige Wichtigkeit dieses Platzes, weil direkt neben dem windschrägen Holzhäuschen ein über 200 Jahre altes Sühnekreuz stand. Solche Denkmäler zeugten nicht nur hier an der Straße von Staufen nach Genhofen von der Handhabung mittelalterlichen Rechts, sondern auch in Sonthofen, Haldenwang und mindestens zehn weiteren Allgäuer Orten. Dieses Steinkreuz hatte 1423 von einem Mörder namens Suttner, der an dieser Stelle den Bauern Kaspar Moosmann erschlagen hatte, errichtet werden müssen. Diese Art der Sühne für einen Mord oder Totschlag war vom 13. bis zum 16. Jahrhundert durchaus üblich gewesen. Erst als Kaiser Karl V. im Jahre 1533
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