Der Peststurm
gewusst, warum er vor ein paar Jahren diesen Pestfriedhof fernab des Dorfes anlegen ließ, auch wenn es immer noch an einer ordentlichen Mauerumfriedung mangelt«, schimpfte er noch.
»Er hat nur einen Kapellenbau in Auftrag gegeben und keinen Gottesacker anlegen lassen … Aber der Platz dort unten, fernab Staufens, eignet sich bestens«, korrigierte der Kastellan, bevor er auf sich selbst zu sprechen kam: »Und ich übernehme die Koordination«, beschloss Ulrich Dreyling von Wagrain, der wusste, dass dafür sowieso kein anderer infrage kommen würde, diesen Teil des Gespräches.
Während der darauffolgenden Strategiebesprechung hörten sie Siegbert diejenigen Töne ins Horn blasen, die einen friedlichen Besucher ankündigten. Bevor der Kastellan aufstand, um nachzusehen, wer am Schlosstor war, blickte er allen nochmals tief in die Augen: »Ihr seid euch dessen bewusst, dass ihr euch in große Gefahr begebt. Niemand zwingt euch, das zu tun, was wir soeben besprochen haben. Aber wenn ihr es tut, dann bitte richtig! Ich muss mich auf euch verlassen können.«
Natürlich machten sich jetzt alle Gedanken darüber, ob ihr Einsatz nicht nur gut für die bedauernswerten Opfer, sondern auch für sie selbst war. Der Propst schien am wenigsten in Gefahr zu sein, da er mit den Kranken und Sterbenden keinen direkten Körperkontakt haben würde. Schwester Bonifatia und der Kanoniker waren da schon wesentlich gefährdeter. Um das Risiko, selbst infiziert zu werden, zu minimieren, würden sie sich bei ihrer Arbeit mit dementsprechender Kleidung, zu der auch ein mit Essig getränktes Tuch, das sie sich im Bedarfsfall vor Mund und Nase binden konnten, schützen. Außerdem vertrauten sie auf die Obhut Gottes, in die sie sich voll und ganz begeben würden.
Und der Totengräber fürchtete sowieso nichts. Er sah momentan nur seine Entlohnung, die er so knapp wie möglich mit Fabio, der die Sache mit jugendlicher Unbekümmertheit und treuem Gehorsam dem Kastellan gegenüber betrachtete, zu teilen gedachte.
Bevor der einerseits resignierte, andererseits hoffnungsvolle, Hausherr nach draußen ging, um nach dem Besucher zu sehen, bat er Schwester Bonifatia, in die Kammer seiner kranken Frau zu gehen, um ihr bei der offensichtlich aufziehenden Krankheit beizustehen. Wenn Konstanze die Pest hat, ist sowieso alles aus, dachte er und verließ hängenden Hauptes den Raum.
Vor dem Tor stand ein junger Bursche in der typisch zerschlissenen und verdreckten Gewandung der Dorfjugend und berichtete, dass er von seiner Mutter geschickt worden war, um mitzuteilen, dass sich im Bechtelerhof niemand rührte und trotz lauten Rufens weder Fenster noch Türen geöffnet würden. Da die Haustür von innen verriegelt war, würde die Mutter untertänigst darum bitten, dass der hohe Herr nach dem Rechten sehen möge.
Der Kastellan wollte dem Knaben zuerst über den Haarschopf streichen, bevor er ihm dankte, unterließ dies dann aber aus einem plötzlichen Instinkt heraus und trat sogar einen Schritt zurück. Sicher ist sicher, dachte er sich, bevor er zu ihm sagte: »Danke, Gustl. Wir kommen! Geh nach Hause und sag deiner Mutter, dass wir uns sofort darum kümmern. Ach, noch etwas: Verlasst eure Behausung bis auf Weiteres nicht mehr und lasst auch niemanden herein, auch keine noch so engen Verwandten. Hast du das verstanden? … Und erzähle dies allen, die du auf deinem Nachhauseweg triffst!«
»Ja, Herr«, erwiderte der Knabe, ängstlich nickend, obwohl er nicht verstanden hatte, um was es überhaupt ging.
*
Als der Kastellan mit seinem Freund Johannes Glatt und dem Totengräber beim Hof der Bechtelers ankam, rief er mehrmals laut nach den Bauersleuten. Da sich tatsächlich niemand rührte, mussten sie eine Scheibe einschlagen, um ins Innere des Hauses zu gelangen. Als der Propst den Ärmel hochkrempelte, um das Fenster von innen zu öffnen, schob ihn der Totengräber beiseite. »Das ist meine Aufgabe! Ihr wartet hier, bis ich zurück bin! Es ist nicht nötig, dass wir uns alle der Gefahr einer Infektion aussetzen!«
Der Kastellan und der Propst sahen sich verdutzt an.
»Hättest du gedacht, dass Berging eine Seele, geschweige denn Mut oder Erbarmen mit seinen Mitmenschen hat?«, fragte der Propst den kopfschüttelnden Kastellan, während sie dem Totengräber fassungslos zusahen, wie er sich durch die Fensteröffnung zwängte.
Die beiden konnten nicht wissen, dass sich der Unhold nur freiwillig gemeldet hatte, um in den Schubladen
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