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Der Peststurm

Der Peststurm

Titel: Der Peststurm Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Bernhard Wucherer
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dass auf dem Galgenbihl eine herrenlose Schafherde graste, wollten sie damit Nahrungsmitteldepots anlegen.
    Obwohl wegen des gegenseitigen Misstrauens die wenigsten von ihnen miteinander darüber gesprochen hatten, war dieser Gedanke wohl allen, zumindest aber den meisten, gleichzeitig gekommen. »Derjenige, dem sie gehört haben, ist tot … Er braucht die Schafe nicht mehr«, hatten die Männer so oder ähnlich in den eigenen vier Wänden gesagt, um ihr Gewissen zu beruhigen, und waren von ihren immer weniger an Gott glaubenden Frauen meist darin bestätigt worden.
    »Der Bechteler war ein gottesfürchtiger Mensch und hätte gewollt, dass wir uns seine Schafe holen und damit wenigstens unser Leben retten, wenn es ihm selbst schon nicht gelungen ist, sich und die Seinen zu schützen«, hatte die alte Lechnerin gesagt und darauf hingewiesen, dass sogar das Grundstück, auf dem die Tiere grasten, verwaist war und sich jetzt niemand mehr um die bedauernswerten Schafe kümmerte. Und sie hatte sogar recht damit: Da die Schafe die eingezäunte Wiese schon in ein paar Tagen kahl gefressen haben würden und sie jetzt niemand mehr tränkte, würde ihnen über kurz oder lang unweigerlich der Hungertod oder das Ende durch streunende Hunde oder ein Wolfsrudel, das man vor Kurzem gesichtet hatte, drohen. Da lag es doch nahe, aus der Not eine Tugend zu machen und die Tiere vor dem sicheren, qualvollen Tod zu bewahren, indem man sich selbstlos um sie kümmerte.
    »Außerdem besteht zusätzliche Seuchengefahr, wenn wir die vielen Tiere sterben und auf offener Flur verfaulen lassen. Dann wird der Peststurm des Todes über unser Dorf fegen«, legten sie sich als weiteres Argument für ihren geplanten Diebstahl, den sie eher als Mundraub ansahen, zurecht.
    Es kam ihnen so vor, als wenn ihnen die Pestilenz zwar aus der Hölle, diese Tiere aber vom Himmel geschickt worden wären. Sie sahen die einzige Möglichkeit darin, die drohende Seuche aussitzen zu können, indem sie ihre Behausungen nicht mehr wegen Nahrungsbeschaffung würden verlassen müssen, solange latente Gefahr bestand. Da sie nicht wussten, dass die Krankheitserreger im Fell der Schafe auf sie lauerten, würden sie die Tiere scheren. Das konnte nicht schaden, waren sich die einfältigen Tölpel sicher, für die diese spezielle Schafwolle auch ein geeignetes Mittel war, um ihre Feuerstellen zu entzünden. Dies stank zwar erbärmlich, konnte aber helfen, … falls die Flöhe sich nicht rechtzeitig in Sicherheit bringen konnten.
     
    Fast alle Männer und ein paar, aufgrund der traurigen Zeiten besonders gottlos gewordene, Weiber zogen, mit Stricken bewaffnet, in Richtung Staufenberg. Schon auf dem Weg dorthin kam es zu unschönen Szenen. Jeder wollte der Erste sein, um für sich die kräftigsten Tiere reklamieren zu können. So versuchte einer den anderen zu überholen. Während des ganzen Weges schoben und rempelten sie sich so unsanft, dass immer wieder jemand zu Boden fiel, blutete oder sogar mit gebrochenen Knochen auf dem Weg liegen blieb. Am Ortsausgang, direkt beim Bechtelerhof, hatte sich mitten auf der Straße der Staufner Pfarrherr postiert, um die Männer aufzuhalten. Mit beiden Händen umklammerte er das wertvolle romanische Holzkreuz, das er extra aus der Sakristei geholt hatte, und rief den aufgebrachten Männern entgegen: »Vade retro! Vade retro Satanus! … Versündigt euch nicht und seht her!« Dabei zeigte er wild gestikulierend zum Bechtelerhof. »Hier an dieser Stelle sind elf gottesfürchtige Menschen gestorben, die noch nicht einmal bestattet worden sind, und ihr … «
    Bevor er weiterreden konnte, wurde er beiseitegeschoben und schließlich zu Boden gestoßen. Die Männer ließen sich auf ihrem Weg zu bescheidenem Reichtum nicht aufhalten. Nicht jetzt, wo es ums neuerliche Überleben ihrer Familien ging. Einer von ihnen schielte sogar auf das wertvolle Kreuz, das dem Pfarrherrn aus den Händen gefallen war, ließ es aber doch liegen. Dies tat er weniger aus Skrupel, sondern aus dem Drang heraus, möglichst schnell zu den Schafen zu kommen.
    Bei der Herde angekommen, vertrieben sie erst den aufgeregt bellenden und zähnefletschenden Hund des verstorbenen Schäfers, bevor sie sich mit ihren mitgebrachten Stricken auf die erschrockenen, und deshalb wild durcheinander rennenden und blökenden, Tiere stürzten. Da es nur neun Böcke waren und sie alle am liebsten einen zeugungsfähigen Bock, ein milchgebendes Mutterschaf für die Zucht und ein fettes Tier

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