Der Peststurm
interessiert.«
Judith drückte Lea ganz fest an sich und hielt ihr die Ohren zu, während sich Sarah entsetzt eine Hand vor den Mund hielt.
»Die Hauptsache war, dass man Schuldige gefunden hatte, die man für den Pesttod Tausender zur Rechenschaft ziehen konnte. Im September dieses unseligen Jahres wurden nur eineinhalb Tagesreisen von hier – im schweizerischen Zürich – viele Juden ermordet und am Genfer See sogar ganze jüdische Viertel niedergebrannt. Zwei Monate später hat man in Lindau, Landsberg, Augsburg und Stuttgart die Judenviertel abgefackelt. Ein Jahr darauf folgten Basel, Freiburg, Ulm und andere Städte. Der Hass auf uns Juden war dermaßen groß, dass sich die Hatz weiter ausgedehnt und es auch Konstanz, Würzburg und andere Städte getroffen hat. Ich spreche jetzt nur von Städten der näheren und weiteren Umgebung des Allgäus. Natürlich ist man auch im Rheinland, ganz oben in den Städten der Hanse, und in anderen europäischen Landstrichen genauso menschenverachtend mit unseresgleichen umgesprungen wie hierzulande. Was meinst du, Lodewig, warum wir aus unserer schönen Heimatstadt Antwerpen geflohen sind?«
Bei diesem Gedanken erfasste Jakob Wehmut und er seufzte tief.
Judith spürte, wie schwer es ihrem Mann fiel, über dieses Thema zu reden, und strich ihm mit dem Handrücken sanft über die Wange, obwohl es ihr ebenso erging und sie die Wehmut packte.
»Aber wer, in Himmels Namen, war zu so viel Grausamkeit fähig?«, hinterfragte Lodewig.
Jakob hob die Schultern an, zog gleichzeitig die Mundwinkel nach unten und die Augenbrauen hoch, bevor er antwortete: »Fanatische Hetzprediger, getrieben von hysterischer Angst vor der Pest. Aber es waren auch Habgier und die Absicht, Schulden bei jüdischen Gläubigern loszuwerden, die aus zuvor gottesfürchtigen Christen Mörder werden ließen. Da es den Christen verboten war, Geld zu verleihen, haben sie sich über Jahrhunderte hinweg Geld von uns Juden geliehen und dann die Gelegenheit genutzt, sich der Gläubiger zu entledigen, indem sie ihnen vorgeworfen haben, die Ursache der immer und immer wieder europaweit um sich greifenden Geißel der Menschheit zu sein.«
»Das ist ja schrecklich! Meinst du, dass dies wieder geschehen könnte?«, fragte Lodewig, der jetzt Sarahs Hände noch fester hielt als bisher.
»Wer weiß? Die Pest ist immer noch so undurchschaubar wie vor fast 300 Jahren, und die Ärzte stehen dieser rätselhaften Krankheit immer noch ziemlich ratlos gegenüber, auch wenn sie heute etwas mehr darüber wissen. Wahrscheinlich wird man uns Juden auch noch in 300 Jahren verfolgen. Die einzige Erkenntnis, die in dieser langen Zeit gewonnen wurde, ist, dass man heutzutage weiß, die Pest ist ansteckend. Sicher: Eine wichtige Erkenntnis, … aber ein Kraut dagegen ist immer noch nicht gewachsen. Der interessante Vortrag deines Vaters hat dies nur allzu deutlich gemacht. Aber auch dieses wertvolle Wissen scheint nur wenig zu nützen. Obwohl wenigstens der aufgeklärte Teil der Bevölkerung wissen sollte, dass die Pest nicht durch die Vergiftung von Brunnen ausbricht, sondern durch Rattenflöhe verbreitet wird, glauben die Menschen immer noch an die Ansteckung durch Zauberei, bloße Berührung und sogenannte ›Miasmen‹, einem üblen Dunst, der bei Wärme aus dem feuchten Boden steigen soll und als vergiftete Luft den Tod bringt … «, Jakob schluckte, »oder eben durch vergiftetes Wasser. Deswegen befürchte ich, dass wir Juden auch heutzutage noch für die Pest verantwortlich gemacht werden könnten.«
»Wie kommst du darauf?«, fragte Lodewig aus Sorge um seine geliebte Sarah.
»Nun, die Menschen hier sind zwar nicht gescheiter oder dümmer als anderswo, aber sie sind ungebildet, wofür sie nichts können, … und abergläubisch. Wenn hier ein ›Judensleger‹ auftritt … «
»Ein was?«, unterbrach Lodewig seinen Schwiegervater.
»Entschuldigung! Das kannst du nicht wissen. Dabei handelt es sich um eine alte Bezeichnung in Anlehnung an diejenigen, die im Mittelalter streunende Hunde gejagt und getötet haben. Solche Leute hat man damals als ›Hundesleger‹ bezeichnet. Ich meine damit eine Person, die andere gegen uns aufhetzen könnte, wenn sich die Pest in Staufen erst einmal richtig ausgebreitet hat.«
»Gott sei Dank gibt es in Staufen niemanden, der dazu in der Lage wäre. Außerdem seid ihr hier bei allen sehr beliebt«, versuchte Lodewig, die Bombergs zu beruhigen.
»Wirklich niemanden?«, fragte Jakob leise,
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